Technisch-funktionale Modelltests zur Absicherung integraler Fassadenkonzepte
Michael Eberl, Herbert Sinnesbichler, Gunnar Grün
HINTERGRUND
Innovative Fassaden beruhen auf einer technologischen Disziplinenkombination aus Maschinenbau, Leichtbau, Metallbau, Glaswesen, Haustechnik etc. mit hohen bauphysikalischen Anforderungen. Dies stellt sowohl Planer als auch Ausführende vor immense Herausforderungen, da die unterschiedlichsten Fachdisziplinen zusammenzuführen sind, welche in den seltensten Fällen von nur einem einzelnen Fachplaner oder einem ausführenden übergreifenden Betrieb beherrscht werden. Trotz dieser Systemkomplexität wird auch bei hohen Objektsummen vor der Fertigung häufig keine ausreichende technisch-funktionale Qualitätskontrolle eingesetzt, lediglich die ästhetische Bemusterung vor Ort findet regelmäßig statt.
Komplexe Fassaden übernehmen diverse – eben nicht nur ästhetische – Funktionen, wie Wetterschutz und Raumbehaglichkeit sichern, Belüften, Beleuchten, thermische sowie elektrische Energieerzeugung, -speicherung und -verteilung. Um dieser Komplexität mit ihren Risiken (auch finanzieller Art, u.a. Wartung und Betrieb) zu begegnen, werden technisch-funktionale Modelltests benötigt, so dass der Bauherr ausreichende Sicherheit über die Funktion der bestellten Fassade erlangt. Darüber hinaus erleichtert ein vorheriger Test im Bereich der Gebäudetechnik die spätere Inbetriebnahme und schützt vor späteren Überraschungen, d.h. im Idealfall wird das Gebäude in Betrieb genommen und das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten funktioniert auf Anhieb, ohne dass im laufenden Betrieb noch große Nachbesserungen vorgenommen werden müssen. Mit seinen Kompetenzen und Versuchseinrichtungen kann das Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP in Holzkirchen solche Bemusterungen unter Realbedingungen vornehmen, für welche es derzeit keine standardisierten und etablierten Testverfahren gibt. Im Folgenden werden die Möglichkeiten und die resultierenden Vorteile am Beispiel einer Fassadenbemusterung am VERU-Versuchsgebäude des Fraunhofer IBP dargestellt.
Beispiel Abluftfassade
Am Standort der Firmenzentrale des Unternehmens Festo AG in Esslingen wurde mit dem „AutomationCenter“ ein neues Bürogebäude mit einer innovativen Fassadentechnologie, einer sogenannten Abluftfassade, geplant und nach einem Mock-up-Test umgesetzt. Zur Minimierung der im Raum wirksam werdenden solaren Lasten wurde die einschalige Fassade mit vollflächiger Sonnenschutzverglasung und einem innenliegenden Blend- und Sonnenschutzscreen ausgeführt. Bei dieser Konstruktionsvariante wird die Abluft aus dem Raum über den Spalt zwischen Screen und Verglasung durch eine Absaugung im Bereich des Doppelbodens abgeführt. Hierdurch soll ein Großteil der solar eingebrachten und am Screen bzw. der Verglasung absorbierten Wärme (bevor sie im dahinterliegenden Büroraum wirksam wird) über den Abluftvolumenstrom unmittelbar wieder abgeführt werden.
Abbildung: Schematische Darstellung der Luftführung in der Abluftfassade
Die Richtung des Abluftvolumenstroms von oben nach unten (entgegen der Thermik) wird gewählt, um eine möglichst turbulente Luftströmung im Bereich des Spaltes zwischen Screen und Verglasung zu erreichen. Es ist zu erwarten, dass hierdurch eine hohe Wärmeübertragungsleistung von den solar erwärmten Oberflächen von Screen und Verglasung an die vorbeiströmende Abluft erreicht wird. Des Weiteren sind unmittelbar vor dem Screen Bodenkonvektoren mit Heiz- und Kühlfunktion im Umluftbetrieb in den Doppelboden integriert. In diesem Bereich ist auch die Einbringung eines konstanten Zuluftvolumenstroms vorgesehen.
Abbildung: Außenansicht Testfassade. Foto: Fraunhofer-Institut für Bauphysik
Zum Nachweis der Funktionsfähigkeit des Fassaden-/Lüftungskonzeptes wurde an der »Versuchseinrichtung für energetische und raumklimatische Untersuchungen - VERU« am Standort Holzkirchen des Fraunhofer IBP ein Versuchsraum mit einer Testfassade im Maßstab 1:1 eingerichtet und unter realen Witterungsbedingungen messtechnisch untersucht. Der Einbau erfolgte in die Südfassade des Versuchsgebäudes.
HERANGEHENSWEISE
Die Untersuchungen am technischen Mock-up adressierten die bestimmungsgemäße Funktion der Abluftfassade. Hierbei sollen folgende Fragestellungen geklärt werden:
- Welche Wärmeentzugsleistung besitzt die Abluftfassade?
- Findet eine Rückströmung der erwärmten Luft aus dem Zwischenraum Screen/Verglasung in den dahinterliegenden Büroraum statt?
- Bildet sich eine homogene Kolbenströmung (von oben nach unten) zwischen Screen und Verglasung aus?
- Welche raumseitigen Oberflächentemperaturen stellen sich am Screen ein und welche Auswirkung hat dies auf das thermische Raumklima?
Bewertungen hinsichtlich des Kunstlichtbedarfs, der Tageslichtversorgung und des Blendverhaltens waren in diesem Projekt nicht Teil der Untersuchungen, können aber in technischen Modell-Tests typischerweise mit betrachtet werden.
Die Messungen an der Testfassade fanden vom Oktober 2013 bis einschließlich Juni 2014 statt. Untersucht wurden zwei unterschiedliche Verglasungsarten sowie neun verschiedene Screenmuster. Die dabei erzielten Messdaten sind für alle Planungsbeteiligten über einen gesicherten Zugang zum Messwerterfassungssystem Imedas TM (Internet Messdaten Erfassungs- und Auswertungssystem) einsehbar, das am Fraunhofer IBP entwickelt wurde. Mit dieser Software werden die Messdaten und die einzelnen Regelungsparameter erfasst, über Webbrowser können beispielsweise der Zugriff auf die Datenbank, Auswerteoberflächen und Prozessvisualisierung aufgerufen werden. Weiterhin stehen dem Planungsteam Videos der durchgeführten Nebelversuche, die Thermogramme der raumseitigen Screenoberfläche und die tabellarische Zusammenfassung der Messergebnisse zur Verfügung.
ERGEBNISSE
Das wesentliche Ziel der Untersuchungen war die Validierung der Systemparameter der Abluftfassade, um die gewünschte Funktionalität – eine Reduzierung der raumseitigen Kühllast – bestmöglich sicherzustellen.Hierzu wurde zunächst die Spaltbreite des unteren Abluftschlitzes am Doppelboden zwischen Screen und Verglasung optimiert. Ein wichtiger Parameter ist der freie Querschnitt des oberen Nachströmspaltes, durch den die Abluft des Büroraumes in den Zwischenraum Screen/Verglasung gesaugt wird. Ist dieser zu großzügig dimensioniert, findet eine Rückströmung der solar erwärmten Luft in den dahinterliegenden Büroraum statt, wodurch sich im Kühlfall der Energiebedarf erhöht. Im Rahmen der Messungen an unterschiedlichen Screen-Materialien zeigte sich, dass bei einer zu starken Perforation des Textilgewebes die Abluft nicht mehr wie gewünscht über den oberen Nachströmspalt angesaugt wird. Stattdessen strömt sie bereits zu einem großen Anteil durch den unteren Bereich des Textils nach. Hierdurch kommt es ebenfalls zu einer Rückströmung der erwärmten Luft aus dem oberen Teil der Abluftfassade in den Büroraum. Weitere Optimierungspotenziale zeigen sich durch die Verwendung von Screen-Materialien mit einer raumseitigen Low-E-Beschichtung (Beschichtung mit niedriger Wärmeemissivität). Hierdurch reduziert sich die Wärmeabstrahlung des Sonnenschutzes an den Büroraum, was sich positiv auf das fassadennahe Raumklima auswirkt. Durch Variationen beim Abluftvolumenstrom bzw. des Screenabstandes zur Fassade kann eine weitere Optimierung des Gesamtsystems bezüglich der Luftströmung im Zwischenraum Screen/Verglasung durchgeführt werden.
INTEGRALER PLANUNGSPROZESS
Die Messdaten aus den Untersuchungen wurden dem am Bau beteiligten Planungsteam (Architekt, Fassaden- und TGA-Planer) zur Validierung ihrer Simulationsmodelle bzw. Rechenansätze zur Verfügung gestellt. Anhand der messtechnisch validierten Modelle lassen sich so zuverlässigere Aussagen zur Funktion neuer, komplexer Fassadensysteme ableiten. Kostensicherheit im Aufbau, Vermeidung von kostenintensiven Nachbesserungen, Erleichterungen bei der Inbetriebnahme des Gebäudes und Sicherheit hinsichtlich der Betriebskosten sind nur einige Vorteile dieses Planungsprozesses. Darüber hinaus erhalten Bauherr und beteiligte Planer die Möglichkeit, die Fassade und den dahinter liegenden Büroraum anhand des Mock-ups bereits im Vorfeld optisch und funktional zu begutachten. Das Gebäude und die späteren Büroräume werden so bereits im Planungsprozess »erlebbar«.
DANKSAGUNG
Wir bedanken uns bei unserem Projektpartner FESTO AG & Co. KG und dem Planungsteam für die gute und konstruktive Zusammenarbeit im Rahmen dieser Untersuchung.
Autoren
M.Eng. Michael Eberl ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für Bauphysik in der Arbeitsgruppe Evaluierung und Demonstration.
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Prof. Dr.-Ing. Gunnar Grün leitet die Abteilung „Energieeffizienz und Raumklima” am Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP und ist außerdem Professor für „Systemintegration effiziente Gebäude“ an der Technischen Hochschule Nürnberg mit Tätigkeit am Energie Campus Nürnberg.
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Dipl.-Ing. Herbert Sinnesbichler ist Leiter der Arbeitsgruppe Evaluierung und Demonstration in der Abteilung Energieeffizienz und Raumklima des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik.
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