Zeitschrift EE

Zurück zu den Beiträgen

2007-04: Atomenergie oder Erneuerbare?

Thema

Quelle (3x): ertex solar

Die Sirenen heulen immer eindringlicher: Die menschengemachte Klimaveränderung findet schneller und gravierender statt als von den meisten Klimatologen vorausgesagt. Sie noch aufzuhalten, ist zum Wettlauf mit der Zeit geworden. Das Kyoto-Protokoll bleibt in seinen Zielen weit hinter den Anforderungen. Noch unlängst wurden die Computersimulationen des Hollywood-Films "The Day after Tomorrow", in dem wir New York unter Wasser gesetzt sehen, als alarmistische Übertreibung gewertet. Doch nunmehr erscheint das - unterstrichen durch den Al Gore-Film „Eine unbequeme Wahrheit“ - schon wie ein Blick in eine tatsächlich nahende Zukunft. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die verheerenden Folgen für die Menschenzivilisation, in dem Buch des Australiers Tim Flammery "Wir Wettermacher" in allen Facetten beschrieben, erhärten sich. Das aktuelle Buch von James Lovelock reiht sich ein in diese Alarmrufe. Diese schlagen sich sogar schon bis in Reden des bisherigen Klima-Ignoranten George W. Bush jr. nieder. Sie werden auch deshalb schriller, weil die Verantwortungsträger "nicht tun, was sie wissen", wie es Robert Jungk ausdrückte.

Atomenergie oder Erneuerbare? Oder: Wer ist Godot?

Von Hermann Scheer*

James Lovelock unterscheidet sich in vier Aspekten von den meisten anderen Warnern. Erstens hat er das Thema nicht gerade erst entdeckt. Er verkörpert also eine gewachsene Autorität.
Zweitens geht er in seiner Warnung noch weiter als andere: Nicht nur die Lebensverhältnisse der Menschen sind durch hemmungslosen gigantischen fossilen Energieverbrauch gefährdet. Gefährdet ist die Biosphäre unseres Planeten insgesamt. Die drohende Perspektive ist der Zustand des Planeten Mars, auf dem sich kein lungenatmendes Lebewesen befindet, kein Strauch wächst und kein Wasser fließt. Zu dieser Warnung kommt Lovelock aus seinen Beobachtungen über das Ineinandergreifen der Naturkreisläufe. Diese sind ein aufeinander abgestimmtes Ganzes, in das die Menschen integriert sind. Dieses Ganze - eben Gaia - ist ungeheuer geduldig gegenüber störenden äußeren Eingriffen, und durchaus belastbar. Aber wenn es überstrapaziert wird, schlägt es - einem Todeskampf mit heftigen Zuckungen gleich - vernichtend zurück.

Engagement statt „no future“

Drittens ist ihm bewusst, dass man eine der Gefahrengröße adäquate Antwort geben muss, wie das Kollabieren unserer Biosphäre noch abgewendet werden könnte. Davor drücken sich nämlich viele Katastrophenwarner. Sie belassen es beim Beschreiben der Gefahr, um damit die Gesellschaft wachzurütteln; und geben allenfalls zaghafte Antworten, die offensichtlich zu kurz gegriffen sind. Aber man darf eine Gesellschaft nicht mit der Gefahrenbeschreibung allein lassen. Es ist sozialpsychologisch ein zwingendes Gebot, im selben Atemzug den Weg aufzuzeigen, wie wir der Gefahr noch entkommen könnten. Wird das unterlassen, ist die wahrscheinliche Reaktion einer schweigenden Mehrheit nicht etwa deren massenhafte Aktivierung, sondern das Ausbreiten von "no-future"-Mentalitäten, Apathie, Lethargie, Nihilismus. Wird das zum Massenphänomen, kommt die Zerstörung der "moralischen Ökologie" noch vor der der physischen Ökologie. Dann geht der Zivilisation das Wichtigste verloren, was sie für ihr Überleben braucht, nämlich genug aktive Kräfte, die sich für ein kollektives Überleben engagieren. Dieses Engagement entsteht, wenn eine solche Perspektive in Sicht ist und als realisierbar wahrgenommen wird. Selbst Al Gore mit seiner weltweit bisher spektakulärsten Katastrophenwarnung unterlässt es, eine kompakte Perspektive konkret zu benennen. Wo liegt der "Fluchtweg aus dem Treibhaus", wie es Franz Alt in der im Ersten Programm ausgestrahlten Fernsehsendung bereits Anfang der 90er Jahre nannte? Der Fluchtweg, der in dieser Sendung gezeigt wurde, ist der des generellen Wechsels von fossilen Energien zu Erneuerbaren Energien - bei gleichzeitiger prinzipieller Ablehnung der Atomenergie, allerdings aus anderen elementaren Gründen als dem der Klimakatastrophe. Das ist der Ausweg, den ich vertrete und dessen Möglichkeit ich in vielen Schriften beschrieben habe. Er muss geschehen bei gleichzeitiger drastischer Reduzierung des Energieverbrauchs in den Industrieländern, um die längst tickende Zeitbombe noch rechtzeitig entschärfen zu können. James Lovelock gehört zu den Warnern, die einen Ausweg aufzuzeigen versuchen - jedoch in eine diametral entgegengesetzte Richtung. Er votiert vehement für die Atomenergie.

Globale Energiedebatte

Er ist damit - und das machte die vierte und höchst strittige Eigenart seiner Wortmeldung aus - der weltweit bekannteste Verfechter der Atomenergie, weil er sich dennoch nach wie vor als ökologischer Fundamentalist, Umweltaktivist - generell als "Grüner" - versteht. Er ist der Kronzeuge der Verfechter einer "Renaissance" der Atomenergie geworden, darunter der Betreiber der Atomkraftwerke, die weitgehend identisch sind mit den Betreibern der fossilen Großkraftwerke. Lovelock bedrängt die Ökologiebewegung, ihren Widerstand gegen die Atomenergie aufzugeben, denn diese sei in Wahrheit die einzig grüne Energie. Seine zentrale Begründung dafür ist, dass Erneuerbare Energien keine gleichwertige Alternative dazu seien - geschweige denn eine höherwertige. Sie seien noch nicht einführungsreif und könnten es wegen unüberwindbarer Mängel auch kaum werden. Jedenfalls kämen sie aus seiner Sicht nie an die Vorzüge der Atomenergie heran. In deren Weiterentwicklung liegt für ihn die tatsächlich nutzbare "Sonnenenergie" in Form der Atomfusionsreaktoren. Die Verschmelzung von Atomen, wie sie im Sonnengestirn stattfindet, soll in einem geschlossenen System auf der Erde kopiert werden - eine künstlich von uns hergestellte statt der schon bereits angebotenen. Das Setzen auf Erneuerbare Energien ist für ihn nicht nur technologische und ökonomische, sondern auch eine ökologische Schimäre. Es komme einem Warten auf Godot gleich - jener ominösen Theaterfigur des Schriftstellers Samuel Becket, auf die vergeblich gewartet wird und von der man nicht einmal weiß, wie sie aussieht oder ob sie überhaupt existiert. Mit genau diesem Hinweis auf Godot habe ich dem gegenüber in meinem 2005 erschienenen Buch "Energieautonomie" das Setzen auf Atomfusionstechnologie charakterisiert.

Vorurteile gegen Erneuerbare

Der harte Kern der globalen Energiedebatte, dem so gerne und so oft ausgewichen wird, ist tatsächlich die Frage, was anstelle der fossilen Energien kommen soll und muss. Sind es die Erneuerbaren Energien oder die atomaren Energien mit ihrem Fixstern der Atomfusion. Oder können und müssen es beide sein? Das ist der Grundkonflikt des 21. Jahrhunderts. Wer immer auf die Karte der Atomenergie setzt, muss das damit legitimieren, dass er die Erneuerbaren Energien als keine realistische Alternative hinstellt. Genauso geht Lovelock vor, bis zur Negierung längst vorhandener Technologien und zur Verleugnung längst praktizierter Anwendungen Erneuerbarer Energien. Damit wird sein Buch zu einem Manifest für die Atomenergie und zu einem Konstrukt voller Vorurteile und Uninformiertheiten über Erneuerbare Energien, deren Potenzial, den Stand der darauf bezogenen Technik und deren Kosten. Lovelock zufolge sind alle verblendet, die darauf setzen und die Atomenergie ablehnen. Kurzum: Er redet die Atomenergie gut und die Erneuerbaren Energien schlecht. Seine beiden Hauptargumente sind: Die Gefahren des fossilen Energieeinsatzes seien unendlich größer als die der Atomenergie. Da diese aber im Gegensatz zu Erneuerbaren Energien verfügbar sei, müsse - neben radikaler Minderung des Energieverbrauchs - unbedingt auf diese gesetzt werden. Für ein Setzen auf Erneuerbare Energien reiche die uns noch verfügbare Zeit nicht mehr aus.

Unterschätzte Gefahren

Es gibt nun gute Gründe, die Gefahren aus fossilem Energieverbrauch höher einzuschätzen als die der Atomenergie. Aber wissenschaftlich unhaltbar sind die Argumente, mit denen Lovelock die aktuelle Verfügbarkeit Erneuerbarer Energien abstreitet. Wissenschaftliche Szenarien, die die Möglichkeit einer Vollversorgung der Gesellschaft mit Erneuerbaren Energien beschreiben - darunter solche vom International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), von der Union of Concerned Scientists in den USA sowie solche für die EU-Kommission und den Deutschen Bundestag - werden seit Jahren von der überkommenen Energiewirtschaft ignoriert, um die These der Unverzichtbarkeit der Atomenergie aufrechterhalten zu können. Auch bei Lovelock findet sich kein Wort darüber. Umso rosiger sind die Farben, die er für die Atomenergie malt. In Tschernobyl habe es nach dem Reaktorunfall 1986 nicht etwa viele zehntausende Tote gegeben, sondern nur zwischen 45 und 75. Er beruft sich dabei auf eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die in Wahrheit von der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) erarbeitet wurde. Sie ist längst als peinliches Machwerk identifiziert worden und der WHO inzwischen sehr unangenehm. Lovelock bestreitet auch, dass die Uranreserven zu Ende gehen, unter Verweis auf "Low-Grande-Uranium" in Form winziger Spurenelemente etwa in Meeresgewässern. Dass eine derartige Gewinnung von spaltbarem Material allenfalls zu unermesslichen Kosten möglich wäre, bleibt unerwähnt. Die Endlagerung atomaren Mülls über zehntausende von Jahren scheint für ihn kein sonderliches Problem zu sein, und auch nicht die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen über den Umweg weltweit installierter Atomkraftwerke. Und die Technologie der Atomfusionsreaktoren könnte nach Lovelock schnell verfügbar sein, wenn man sich mehr bemüht hätte. Damit verspricht er etwas, was selbst die glühendsten Atomfusionsforscher für unmöglich erachten, die frühestens nach 2050 einen betriebstauglichen Reaktor erwarten. Dass dieser wiederum unermesslich hohe Kosten erfordern und neue Großrisiken aufwerfen würde, scheint bei Lovelock erneut keine Rolle zu spielen.

Abbildung 1: Quelle (2x): AEE NÖ-Wien

Erneuerbare JETZT verfügbar

Aus meiner Sicht sind Kostenargumente gegenüber Strategien zur Vermeidung eines Klimakollapses zweitrangig, da die Kosten des Kollapses in jedem Fall unbezahlbar sein werden. Merkwürdig und widersprüchlich ist nur, wenn Lovelock gegen Erneuerbare Energien wiederholt das Argument zu hoher Kosten bemüht - obwohl längst nachgewiesen ist, dass diese auf jeden Fall niedriger sein werden als die viel gepriesenen Atomfusionsreaktoren. Überdies kann niemand wissen, ob sie jemals praktisch verfügbar sein werden. Im Gegensatz dazu sind aber Technologien zur Nutzung Erneuerbarer Energien aktuell verfügbar - und das sogar schnell. Das gilt auch schon gegenüber den heute verfügbaren Atomspaltungsreaktoren. Jede einzelne Solar- oder Windkraftanlage ist in wenigen Tagen installiert und kann sofort emissionsfrei Strom produzieren. Viele davon ersetzen ein großes Atom- oder Kohlekraftwerk. Ein neues Atomkraftwerk hat demgegenüber Bauzeiten von meist mehr als zehn Jahren. Gerade weil es Lovelock darum geht, schnelle und umfassende Gegenmaßnahmen zu ergreifen, müsste er voll für Erneuerbare Energien statt für Atomenergie plädieren!
Nur kursorisch können an dieser Stelle die Einwände Lovelocks gegen Erneuerbare Energien widerlegt werden:
Den Photovoltaik-Anlagen zur Stromerzeugung spricht er nur eine Lebenszeit von 10 Jahren zu; doch die Produzenten geben heute schon sogar Garantien von 20 Jahren.
Aus Solarstrom könne kein Kraftstoff für Flugzeuge gewonnen werden, aber dem Strom aus Atomkraftwerken spricht er diese Möglichkeit zu.
Die Wärmeerzeugung aus solarthermischen Anlagen würde schon "widely" genutzt, was offenbar besagen soll, dass mehr kaum möglich sei. In Wahrheit ist diese Möglichkeit bisher kaum ausgeschöpft und allein mit Sonnenenergie beheizbare Häuser gibt es längst in Fertighausformat, bei mittelfristiger Kalkulation sogar zu niedrigeren Kosten als für fossile Heizungen.
Solar- und Windstrom würden keine wirkliche Alternative darstellen, weil eben die Sonne nicht durchgängig scheint und der Wind nicht immer weht. Als direkte Speichermöglichkeiten gebe es nur die Pumpspeicher, und diese könnten in Flachländern gar nicht eingesetzt werden. Dass es viele weiterer Speichertechnologien gibt, von neuen Batterietechnologien bis zu Druckluftkraftwerken in Erdkavernen, bleibt unerwähnt.
Gegen Windkraftanlagen würden ästhetische Gründe sprechen, da für den Ersatz der heutigen Stromproduktion allein in Großbritannien 276.000 Anlagen installiert werden müssten - und außerdem könnten sie das Kleinklima beeinträchtigen. Sind aber ästhetische Ablehnungsgründe ausreichend, wenn es darum geht, das Schmelzen der arktischen Eismassen und eine Abschwächung oder Verlagerung des Golfstroms abzuwenden? Sind etwa hunderttausende Hochspannungsmasten für den Stromtransport von Atomkraftwerken ästhetischer? Warum müssten es 276.000 Anlagen sein, wenn allein durch um 30 Meter höher aufgerichtete Anlagen 40.000 reichen würden, um dieselbe Strommenge zu erzeugen? Und was ist die geringfügige Veränderung des Kleinklimas an manchen Stellen gegen die Anomalie des Weltklimas?

Ökologischen Anbaukonzepte

Mit anderen Worten: Bei näherem Hinsehen sind alle Probleme Erneuerbarer Energien nur Problemchen gegenüber denen der fossilen Energie und der Atomenergie. Die Einwände Lovelocks stechen nicht, allerdings mit einer großen Ausnahme, bei der sie zutreffend sein könnten. Diese Ausnahme ist die Energie aus Biomasse, vor der Lovelock unter Verweis auf die ohnehin schon massiven Gefahren warnt, die wir schon aus der industriellen Landwirtschaft für die Lebensmittelproduktion kennen. Wenn wir die Biomasse nicht mit größter Sorgfalt produzieren, d.h. mit ökologischen Anbaukonzepten in regionalen Nährstoffkreisläufen und auf der Basis einer Ganzpflanzennutzung, können daraus in der Tat katastrophale Konsequenzen erwachsen. Diese Gefahr besteht, wie man bereits anhand von Eukalyptuskulturen mit überproportionalem Wasserbedarf für den Energieverbrauch sehen kann, die der regionalen Bevölkerung das Wasser entziehen, oder anhand gerodeter tropischer Regenwälder in Indonesien, um Palmölplantagen für den Energiebedarf anzulegen.

Abbildung 2: Quelle: Feistritzwerke und AEE INTEC

Möglichkeiten (er)kennen

Die Thesen von James Lovelock werfen die Frage auf: Woher kommt der doppelte Maßstab, mit dem die Atomenergie unterkritisch und die Erneuerbaren Energien so überkritisch bewertet werden, dass noch nach dem letzten Haar in der Suppe gesucht wird? Genauso muss man an andere als an Lovelock die Frage stellen: Warum scheut sich ein Al Gore, von seiner alarmierenden Analyse der Weltklimagefahren zu einer tatsächlich gefahrengerechten Alternative zu kommen? Ein Teil der Antwort ist: aus dem Erkennen einer Gefahr erwächst noch keineswegs die Fähigkeit, auch alle Möglichkeiten zu kennen, wie dieser begegnet werden kann. Doch die Gefahrenkenntnis müsste zu intensiver Neugier über diese Möglichkeiten führen. Gegenüber Erneuerbaren Energien mangelt es weithin daran, keineswegs nur bei Lovelock. Uniformierte, oberflächliche und vorurteilsbeladene Vorbehalte gegen Erneuerbare Energien finden wir nach wie vor selbst im Wissenschaftsbetrieb. Dafür gibt es vielerlei Gründe, wissenschaftsmethodische, kulturelle, psychologische oder einseitig von etablierten Interessen geleitete.
Ein Grund ist die partikular gewordene Wissenschaft, die den Zusammenhang aus dem Auge verloren hat. Gegen ein solches Wissenschaftsverständnis argumentierte Lovelock lebenslang. Aber in Bezug auf technische und wirtschaftliche Lösungsansätze ist er offenbar selbst partikularem Denken verhaftet. Dazu gehören isolierte Kostenvergleiche einzelner Faktoren eines Energiesystems, etwa den Kosten für Stromerzeugungsanlagen. Stattdessen wäre es nötig, Energiesysteme zu vergleichen - also die gesamte Wirkungskette von der Aneignung einer Energie durch Menschen bis zu deren finaler Nutzung. Erst wenn das getan wird, öffnet sich der Blick dafür, dass das vorhandene Energiesystem nicht neutral sein kann gegenüber den verschiedenen Energiequellen. Vielmehr ist es zwangsläufig zugeschnitten auf die konkrete Energiequelle, die bereitgestellt werden soll. Daraus ergibt sich jeweils, welcher Aufwand erforderlich ist für Förderung, Aufbereitung, Transport, Umwandlung und Verteilung einer Energie. Jedes menschengemachte Energiesystem muss dem Fluss und den spezifischen Anforderungen der gewählten Energiequelle folgen.

Bewertungsmaßstab

Das Grundproblem der Energiediskussion ist deshalb, dass Erneuerbare Energien an den Bereitstellungsmethoden und -erfordernissen der konventionellen Energiewirtschaft gemessen werden. Dem können sie nicht entsprechen. Der konventionelle Bewertungsmaßstab Erneuerbarer Energien mit ihrem vollkommen anderen Energiefluss ist, ob und wie sie kompatibel gemacht werden können mit den bereits etablierten Energieträgern. Der Bewertungsmaßstab muss aber umgekehrt sein, nämlich nach der Kompatibilität anderer Energien mit Erneuerbaren Energien, weil es keine attraktivere Option gibt als diese: Sie sind unerschöpflich und in allen Regionen der Welt vorhanden, emissions- und rückstandsfrei. Erneuerbare Energien repräsentieren ein neues Paradigma der Energiebereitstellung, das die bisherigen Denkgewohnheiten über Energie umwirft und deshalb auf geistigen Widerstand der eingespielten Energieexperten stößt. Sie führen zu einem Wechsel von kommerziellen zu nicht-kommerziellen Primärenergien und von wenigen Großanlagen zu vielen mittleren und kleineren, was gleichbedeutend ist mit einem Wechsel der Eigentümerformen, von wenigen zu vielen Eigentümern. Albert Einstein sagte, dass ein Problem nicht mit den Methoden gelöst werden kann, die es hervorgerufen haben. Die Orientierung auf Erneuerbare Energien bedarf anderer Methoden.
Als in den 50er Jahren die Perspektive der Atomenergie für das nachfossile Zeitalter entwickelt wurde, sträubte sich zunächst die etablierte Stromwirtschaft. Dass sie dennoch auf die atomare Option setzte, ergab sich aus zwei Gründen: Sie ließ sich den Einstieg in die Atomkraft von den Regierungen bezahlen, die voll darauf setzten und Atomenergie als die Perspektive betrachteten. Internationale Institutionen wie EURATOM und die IAEA entstanden, und nationale Forschungszentren wurden aus dem Boden gestampft. Die Atomenergie wurde zum größten technologischen Regierungsprojekt der Weltwirtschaftsgeschichte, gefördert mit insgesamt über eine Billion Dollar. Der zweite Grund: Atomkraftanlagen sind kompatibel mit den Strukturen der Energiewirtschaft - ihren Großkraftwerken, Hochspannungsleitungen und Unternehmensformen. Sie entsprach der Projektion in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, dass Energiewirtschaft nur in dieser Gestalt stattfinden könne. Erneuerbare Energien werden damit an einem ihnen fremden Paradigma gemessen, als sei eine Energiebereitstellung aus hochkonzentrierten Anlagen ein Naturgesetz. Nicht zufällig ist ein Haupteinwand gegen Erneuerbare Energien deren mangelnde Energiedichte - ein Einwand, der keineswegs gegen ihre Nutzungsmöglichkeit spricht, aber gegen die Fixierung auf Großanlagen. Erneuerbare Energien unterliegen deshalb psychologisch begründeten mentalen Sperren, die dazu führen, sie nicht ernst zu nehmen.

Abbildung 3:Quelle: GrazerEnergieAgentur

Lösungspotenzial Erneuerbarer

Vielleicht ist das auch der Grund, warum in diesem Meinungsklima allgemeiner Unterschätzung selbst Al Gore zögert, couragiert auf Erneuerbare Energien zu setzen, um nicht belächelt zu werden. Andere, wie vielleicht Lovelock, kommen gar nicht auf die Idee, dass in Erneuerbaren Energien tatsächlich das Lösungspotenzial steckt, das in der Atomenergie vergeblich gesucht wird, und gönnen ihnen höchstens einen oberflächlich abfälligen Blick. Vielleicht argumentiert er auch nur vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Großbritannien. Eine politische Strategie zur Forcierung Erneuerbarer Energien gibt es dort bis heute nicht. Es mangelt schon an Forschungseinrichtungen, an einer industriellen Basis und an öffentlicher Diskussion. Großbritannien hat zum Beispiel bessere Windbedingungen als Deutschland, aber Deutschland hat - ermöglicht durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz - zwanzig Mal mehr installierte Windkraftkapazitäten, die kostengünstiger produzieren als britische Anlagen, und die sich in das Stromnetz integrieren lassen. Indirekt ist damit Lovelocks Buch eine Kritik an der Nichtpolitik Tony Blairs in Bezug auf Erneuerbare Energien. Diese Nichtpolitik lässt dann Atomenergie als einzige realisierbare Alternative zu den endlichen fossilen Energien erscheinen. Ich lade deshalb James Lovelock ein, aus eigener Anschauung die zahlreichen ermutigenden Beispiele kennen zu lernen, die in Deutschland allein aufgrund des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in wenigen Jahren entstanden sind. Ich bin sicher, dass er dann zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommen würde.

Konklusion

In den 80er Jahren setzte IBM - seinerzeit der weltweite Leitkonzern auf dem Gebiet der elektronischen Datenverarbeitung - auf Großrechner und betrachtete die PC-Geräte als nicht nennenswertes Spielzeug. Beinahe wäre der Konzern an dieser Fehleinschätzung zerbrochen. Man sieht daran, wie mentale Sperren selbst in exzellenten Köpfen wirken. Ganz ähnlich ist es bei Erneuerbaren Energien, für die die eingespielten Energieexperten ein Teil des Problems sind, das zu überwinden ist. Gaia kommt nämlich erst wieder zu sich, wenn die Menschen dazu kommen, mit technischer Hilfe nur noch die Energie zu nutzen, die auch die Natur ausschließlich nutzt. Eben Erneuerbare Energien.

Literatur

  • Das Buch von James Lovelock: The Revenge of Gaia. Why the Earth Is Fighting Back - and How We Can Still Save Humanity. Verlag Penguin Lane 2006, hat in Großbritannien große Resonanz gefunden und erscheint im Februar 2007 in deutscher Übersetzung im List-Verlag unter dem Titel "Gaias Rache. Warum die Erde sich wehrt".

(Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Solarzeitalter 4/2006)
*) Dr. Hermann Scheer ist Präsident von EUROSOLAR und Vorsitzender des Weltrats für Erneuerbare Energien (WCRE), www.hermann-scheer.de[^]

Top of page