Zeitschrift EE

Zurück zu den Beiträgen

Eine kleine Gemeinde erstrebt den Plusenergiestatus

Ein Projekt der Hochschule für Technik Stuttgart im ländlichen Raum Baden-Württembergs

Die 6.500-Einwohner-Gemeinde Wüstenrot im Nordosten Baden-Württembergs ist Gegenstand einer ganz besonderen Forschungsidee. Ziel ist der Plusenergiestatus, den die Gemeinde bis 2020 erreichen will. Durch kluge Vernetzung von innovativen Technologien will die Kommune ihren Energieverbrauch aus eigenen Quellen decken, auch wenn sie wie tausende anderer Gemeinden dieser Größe über keine besonderen Energieressourcen verfügt. Insofern kann die Vorgehensweise auch für andere Kommunen einen nachahmenswerten Ansatz darstellen. Gefördert vom deutschen Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, wurde das Projekt namens „EnVisaGe“ von Dr. Dirk Pietruschka vom Forschungszentrum Nachhaltige Energietechnik (zafh.net) der Hochschule für Technik (HFT) Stuttgart koordiniert.

Die Flächengemeinde Wüstenrot verfolgt ihr Energieziel unter wissenschaftlicher Begleitung. Foto: Gemeinde Wüstenrot

Ein erster Schritt: Übernahme des Stromnetzes

Bereits 2009 gründeten die beiden benachbarten Gemeinden Mainhardt und Wüstenrot die „energieversorgung mainhardt wüstenrot“ (emw) mit dem Ziel, regional eine zukunftsweisende nachhaltige Stromversorgung aufzubauen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien sollte eine sichere Versorgung zu fairen Preisen mit lokaler Wertschöpfung gewährleisten. Als im Sommer 2012 die Übernahme des Stromnetzes von der EnBW vollzogen war, bot dies beste Voraussetzungen für den Start von EnVisaGe. Das Forscherteam erarbeitete unter Koordination der HFT Stuttgart für die Gemeinde Wüstenrot einen bis 2020 umsetzbaren Energienutzungsplan. In Kooperation mit dem Zentrum für Geodäsie und Geoinformatik der HFT wurde ein 3D-Stadtmodell der Gemeinde erstellt, das als innovatives Planungswerkzeug auf

Basis von City-GML zum Einsatz kam und weiterentwickelt wurde. Damit konnte der gebäudebezogene Ist-Zustand der Gesamtgemeinde erfasst und der Status quo des Energiebedarfs und der Energieerzeugung (vorhandene PV- und solarthermische Anlagen) errechnet werden. Es folgte die Berechnung des Potenzials erneuerbarer Energien auf einer Gemeindefläche von rund 30 Quadratkilometern (Solarenergie, Windkraft, Biomasse, Geothermie) sowie die Ausarbeitung verschiedener Szenarien zu deren Ausbau unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit.

Technisch-wirtschaftliche Szenarien für 2020

Die entwickelte Roadmap sieht vor allem den Ausbau netzgebundener nachhaltiger Wärmeversorgung möglichst in Kombination mit regenerativer Stromerzeugung (z. B. Holzvergasung mit BHKW) vor, sowie die Investition in Windkraft (2 Großwindkraftanlagen sind in Planung). Außerdem könnte unter anderem eine kleinere Biogasanlage mit BHKW realisiert werden. Ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg liegt in der raschen Steigerung der Gebäudeenergieeffizienz durch Erhöhung der Sanierungsrate auf mindestens 3 Prozent pro Jahr. Ob die Gemeinde diesen Plan tatsächlich bis 2020 realisieren kann, hängt davon ab, ob sie Investoren und Gebäudeeigentümer mobilisieren kann.

Von vornherein war klar, dass ein intensiver Ausbau von erneuerbaren Energien das Stromnetz der Gemeinde deutlich belasten würde. Deshalb wurde es im Hinblick auf einen gegebenenfalls notwendigen Ausbau unter dem Aspekt der Umsetzung von SmartGrid- Komponenten zum intelligenten Lastmanagement untersucht. Hier wurden Lösungen zur Netzentlastung durch intelligentes Last- und Speichermanagement von Verbrauchern mit thermischen und elektrischen Speichern erarbeitet. Auch zentrale Stromspeicher wurden betrachtet, die an neuralgischen Punkten des Stromnetzes zur Netzentlastung eingesetzt werden können.

Modellprojekt Plusenergiesiedlung

Das zentrale Umsetzungsprojekt in EnVisaGe ist die 14 703 m² umfassende Plusenergie-Modellsiedlung „Vordere Viehweide“. Die Wohnsiedlung ist ein großflächig mit geothermischer Wärme versorgtes neues Quartier, erbaut von 2012 bis 2017. Zur effizienten Wärmeversorgung werden neben der Umsetzung eines hohen Wärmedämmstandards der Gebäudehülle (KfW 55) auch hoch effiziente Wärmepumpen in Kombination mit einer regenerativen Niedertemperaturwärmequelle umgesetzt, die zentral über ein kaltes Nahwärmenetz bereitgestellt wird. Gespeist wird es über einen europaweit einmalig nach dem System Doppelacker der Doppelacker GmbH in Petershagen angelegten „Agrothermiekollektor“, der Niedertemperaturwärme (2°-15°C) aus zwei Metern Tiefe zur Beheizung und Warmwasserbereitung liefert und im Sommer eine kostengünstige Kühlung der Gebäude ermöglicht.

Die Energie für den Betrieb der Wärmepumpen kommt von PV-Anlagen auf den Dächern, kombiniert mit innovativen Batteriespeichersystemen. Ein intelligentes lokales Lastmanagement sorgt für eine möglichst hohe Eigennutzung des erzeugten PV-Stroms bei möglichst geringer Belastung des lokalen Stromnetzes. Für dieses intelligente Lastmanagement wurde ein innovatives Datenerfassungs- und Übertragungssystem mit abgesicherter Anbindung an eine Cloud entwickelt. Durch eine Anbindung an ein virtuelles Kraftwerk können die dezentralen Wärmepumpen mit Wärmespeichern und die Stromspeicher auch als kumulierte regelbare Stromsenken für den Stromlieferanten angeboten und genutzt werden um auf Überangebote im Stromnetz zu reagieren.

Die agrothermische Kollektorfläche (derzeit 0,44 ha) wird mit der geplanten Erweiterung der Siedlung auf 1,5 ha ausgebaut. Sie kann weiter landwirtschaftlich genutzt werden. Der Kollektor versorgt aktuell 23 Wohngebäude (EFH und DHH).

Für die Bauherren vorgeschrieben: Eine gute Gebäudedämmung (KfW 55), eine PV-Anlage auf dem Dach und der Anschluss ans Kaltwärmenetz mit eigener Wärmepumpe. Foto: zafh.net/Pietzsch

Das Monitoringkonzept für das Agrothermiefeld und die Plusenergie-Mustersiedlung sieht eine mindestens 3-jährige Langzeitmessung und Optimierung vor, die derzeit in einem Folgeprojekt läuft. Ein weiterer Baustein für das Plusenergieziel ist die Wärmeversorgung für den Ortsteil Weihenbronn. Hier wurde das ehemals mit Öl betriebene Wärmenetz für Rathaus, Bauhof und Polizei auf ein kleines Wohngebiet erweitert und auf eine Kombination von Biomasse mit solarthermischer Energie umgestellt. Die Zuspeisung von Wärmeenergie aus zwei Solarkollektoren, davon einer privaten Anlage, hat zum Ziel, in den Sommermonaten den gesamten Wärmebedarf solarthermisch zu decken, sodass die Hackschnitzelkessel nicht im ineffizienten Teillastbetrieb gefahren werden müssen.

Schema Kaltwärmenetz/Plusenergiesiedlung Quelle: Doppelacker GmbH

nvisageBMWi

Das Projekt „EnVisaGe - Kommunale netzgebundene Energieversorgung – Vision 2020 am Beispiel der Gemeinde Wüstenrot. Ein Kommunaler Cluster im Bereich EnEff:Stadt“ wurde gefördert durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi).

Autoren

Dr. Dirk Pietruschka ist wissenschaftlicher Gesamtkoordinator des Projekts EnVisaGe und stellvertretender Leiter des Instituts für Angewandte Forschung der Hochschule für Technik Stuttgart. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Ursula Pietzsch arbeitet im Projektmanagement des Forschungszentrums Nachhaltige Energietechnik der HFT (zafh.net).

Weiterführende Informationen

www.envisage-wuestenrot.de

www.eneff-stadt.info/de/pilotprojekte/projekt/details/gemeinde-wuestenrot-energieautark-bis-2020

Top of page