Zeitschrift EE

 nt 01 | 2022 Flexibilisierung industrieller Energiesysteme

Digitaler Energiezwilling

Die Energiewende basiert auf der signifikant steigenden Integration erneuerbarer Energieträger, womit eine Erhöhung der Volatilität der Energieversorgung einhergeht. Gleichzeitig steigen die spezifischen Kundenanforderungen an die industrielle Produktion, wodurch auch der Energiebedarf immer größeren Schwankungen unterworfen ist. Die Optimierung industrieller Energiesysteme muss somit die Flexibilität von Energieangebot und -nachfrage kombinieren. Das vom österreichischen Klima- und Energiefonds geförderte Projekt „Digital Energy Twin“ entwickelt Lösungen anhand des Anwendungsbeispiels AT & S Austria Technologie & Systemtechnik AG. Das ganzheitliche Optimierungssystem berücksichtigt den volatilen Energiemarkt, das betriebsinterne Energiesystem und den schwankenden Energiebedarf der einzelnen Produktionsabteilungen unter unterschiedlichen Ansätzen.

Foto: AT&S / KANIZAJ Marija-M. | 2018

Energiesystem AT&S AG

Das Energiesystem der AT&S AG, einem führenden Hersteller von Leiterplatten und IC1-Substraten, hat sich über 20 Jahre hinweg kontinuierlich entwickelt und verändert, wodurch das System eine hohe Komplexität erreicht hat. Durch die laufende Produktionsaufrüstung wird das Versorgungssystem für Kühlung, Heizung und Wasser in aktuell zwei Werken kontinuierlich erweitert, umgebaut und verbessert. Jedes Werk besteht aus mehreren Wärmeverbrauchern, die mittels zweier Wärmenetze auf unterschiedlichen Temperaturniveaus (<100 °C) versorgt werden. Der Kältebedarf kann in zwei Cluster unterteilt werden: kaltes und aktiv gekühltes Wasser. Gleichzeitig wird gekühltes Wasser auch zur direkten Versorgung von Produktionsprozessen (Bädern) verwendet.

Schema des Wärme- und Kälteerzeugungssystems der AT&S AG in Hinterberg. Quelle: ENERTEC Naftz & Partner GmbH & Co

Kälte wird zur Gänze über vorhandene Kälteanlagen bereitgestellt. Die dabei anfallende Abwärme wird in die beiden Wärmeversorgungsnetze eingespeist bzw. über Rückkühlung an die Umgebung abgegeben. Die Wärmebereitstellung wird kaskadisch umgesetzt, wobei die Nutzung der vorhandenen Abwärmeströme aus den Kälteanlagen sowie Druckluftkompressoren gegenüber dem Einsatz von Wärmepumpen und schließlich den bestehenden Heizkesseln priorisiert wird.

Optimierungsmethoden

Die meisten Optimierungsmethoden industrieller Energiesysteme benötigen ein Modell des zu optimierenden Systems. Dabei werden sowohl physikalische als auch datengetriebene Modelle eingesetzt. Erstere beschreiben Systeme basierend auf mathematischen Gleichungen, bei zweiteren „erlernen“ sogenannte Machine-Learning-Algorithmen (die aktuell prominenteste Methode aus dem Werkzeugkasten der künstlichen Intelligenz) das Verhalten von Systemen durch die Analyse von Daten. Beide Wege der Modellierung haben klar erkennbare Stärken und Einschränkungen. Gleichungen können von Anwendern grundsätzlich leicht verändert und interpretiert werden. Die Beschreibung von Systemen mit Gleichungen stößt jedoch dort an ihre Grenzen, wo diese zunehmend komplexer und Zustände schwerer beschreibbar werden. Der Grund ist, dass die zugrundeliegenden Gleichungen des Systems nicht bekannt sind oder nur bestimmte Eingangs- und Ausgangsgrößen gemessen werden können, die Zustände im Inneren des Systems aber unbekannt sind. Machine-Learning-Algorithmen verarbeiten genau diese Input-/Output-Daten. Viele Algorithmen benötigen dazu keine Gleichungen und die notwendigen Modelle von Prozessen oder Anlagen können von Personen entwickelt werden, welche die zugrundeliegenden Prozesse und Physik nicht kennen. Damit beschäftigt sich die Wissenschaft aktuell: Wie können Machine-Learning-Ansätze methodisch interpretierbarer, robuster und allgemeiner anwendbar werden. Im Zusammenhang mit der Entwicklung und Nutzung digitaler Zwillinge zur Optimierung industrieller Systeme sind dafür Werkzeuge aus den Welten der Physik und Data Science notwendig.

Physikalisches Modell

Ein physikalisches Modell eignet sich wie beschrieben, wenn die zugrundeliegenden Gleichungen zur Beschreibung des Systems bekannt sind. Das ist für typische Anlagen zur Versorgung mit Wärme und Kälte der Fall. Leistung, Energie, Temperaturen und Massenströme sind typische Parameter, die so beschrieben werden können. Für die Entwicklung und vor allem die weitere Verwendung der Modelle ist die Wahl der geeignetsten Modellierungssprache sowie die Simulationsumgebung wichtig. Im Projekt „Digital Energy Twin“ wurde Modelica für die Modelle und Dymola als Umgebung eingesetzt. Die meisten Modelica-Werkzeuge sind mit dem FMI-Standard2 konform, wodurch die entwickelten Modelle in gängige und auch im Projekt genutzte Softwarelösungen digitaler Zwillinge als FMU3 integriert werden können. Ein weiterer wichtiger Aspekt von Modelica sind frei verfügbare Modell-Bibliotheken für Energiesysteme und die langjährige positive Erfahrung des Konsortiums mit diesen. Die Abbildung des industriellen Energiesystems basiert auf gesammelten Informationen und verfügbaren Modellen für die Grundkomponenten wie Wärmeübertrager, Wärmepumpen sowie Heizkessel und Kälteanlagen.

Datengetriebenes Modell

Komplexer ist die Beschreibung von Prozessen wie zum Beispiel galvanischen Bädern in der Leiterplattenproduktion. Bekannte Gleichungen reichen dafür nicht mehr aus, weshalb im Projekt „Digital Energy Twin“ die Methode der datengetriebenen Modellierung gewählt wird. Damit wird basierend auf verfügbaren gemessenen oder simulierten Eingangs- und Ausgangsgrößen eines Bades ohne Kenntnisse der Vorgänge im Inneren des Bades dieses in ein Modell übergeführt. Weiters müssen unterschiedliche Betriebszustände wie das Vorheizen und die eigentliche Produktion unterschieden werden, um Vorhersagen zu Energiebedarf und Produktqualität machen zu können. Wenn keine Produktion stattfindet, wird die Heizung der Becken abgeschaltet und die Bäder kühlen auf Raumtemperatur ab. Diese unterschiedlichen Phasen werden durch das Datenmodell abgebildet.

Ganzheitliches Optimierungssystem

Um den Energiebedarf des industriellen Systems abbilden, vorhersagen und optimieren zu können, ist es notwendig, das Energiesystem, die Energieverbräuche der einzelnen Produktionsprozesse und die zur Verfü- gung stehende Energie in einem Optimierungssystem zusammenzufassen (siehe Abbildung auf der nächsten Seite). Basierend auf der beschriebenen physikalischen und datengetriebenen Modellierung bilden diese die Grundlage für die Optimierung und werden je nach Wahl der Optimierungsmethode angepasst. Entscheidend in diesem Arbeitsschritt ist auch die Reduktion der Rechenzeit, um die Erkenntnisse in einen digitalen Zwilling in Echtzeit integrieren zu können

Die in Modelica erzeugten physikalischen Modelle haben eine lange Rechenzeit, wodurch ihre Implementierung in ein Optimierungsverfahren erschwert wird. Allerdings ist es möglich, aus diesen physikalischen Modellen sogenannte Surrogatmodelle abzuleiten. Surrogatmodelle stellen das ursprüngliche Modell vereinfacht dar, wodurch die Rechenzeit verkürzt werden kann. Zusätzlich zur Rechengeschwindigkeit ist darauf zu achten, dass die Modelle aus unterschiedlichen Programmierumgebungen zusammengeführt werden können. Dabei hilft der bereits erwähnte FMI-Standard. Steht dieser Standard nicht zur Verfügung, müssen die Modelle „übersetzt“ werden, wobei Surrogatmodelle für diese Übersetzung hilfreich sein können. Mit dem gewünschten Modell können Inputund Outputparameter erzeugt werden, aus denen anschließend das Surrogatmodell erzeugt wird.

Vereinfachte Abbildung eines industriellen Energiesystems. Quelle: Montanuniversität Leoben

Ausblick

Die Digitalisierung eröffnet in der Auslegung und dem Betrieb industrieller Energiesysteme die Möglichkeit, neue ganzheitliche Optimierungsansätze mit dem Ziel der Dekarbonisierung des Energiesystems zu entwickeln und umzusetzen. Die Herausforderung ist dabei, die Modelle des Systems so zu entwickeln, dass sie die Realität hinreichend genau beschreiben und gleichzeitig für Optimierungen nutzbar sind. Anhand des konkreten Beispiels bei AT&S AG werden die Methoden entwickelt, angewandt und führen neben der Visualisierung in Virtual und Augmented Reality zu konkreten Umsetzungen hin zur CO2-neutralen Produktion.

Dieses Projekt wird aus Mitteln des Klima- und Energiefonds gefördert und im Rahmen des Programms Energieforschung (e!MISSION), 5. Ausschreibung 2018 durchgeführt.

Hinweise

  1. IC - Integrated Circuit
  2. Das Functional Mock-up Interface (FMI) ist ein freier Standard, der einen Container und eine Schnittstelle für den Austausch dynamischer Modelle mit einer Kombination aus XML-Dateien, Binärdateien und C-Code in einer einzigen Datei definiert. https://fmi-standard.org
  3. Der Container des FMI-Standards ist die Functional Mock-up Unit (FMU)

Stellungnahme

"Für die Leiterplattenproduktion setzen wir bei AT&S hochspezialisierte Anlagen und Prozesse ein, die auch ein komplexes Energiesystem benötigen. Damit wir effizient, nachhaltig und hochqualitativ produzieren können, werden alle Fertigungsschritte und die damit verbundenen Prozesse sehr genau überwacht und kontinuierlich optimiert. Dafür setzen wir auch auf innovative Lösungen: Mit Hilfe eines Digital Energy Twins einer unserer Fertigungsanlagen sind wir dabei, weitere Optimierungsmöglichkeiten entlang der Produktions- und Energieversorgungskette zu identifizieren und auch umzusetzen. So wird die Flexibilität und Effizienz in der Produktion weiter gesteigert und gleichzeitig ein wesentlicher Beitrag geleistet, die Herstellung von Leiterplatten noch umweltfreundlicher und ressourcenschonender zu machen."

Andreas Gerstenmayer, CEO AT&S

Foto: AT&S

Weiterführende Informationen

https://projekte.ffg.at/projekt/3308396

Autor*innen

Dipl.-Ing. Carles Ribas Tugores ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich „Städte und Netze“ bei AEE INTEC. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Dipl.-Ing. Thomas Kurz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Energieverbundtechnik der Montanuniversität Leoben. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Priv.-Doz. Mag. Phil. Dr. techn. Gerald Schweiger, MA MA PhD, ist Gruppenleiter am Institut für Softwaretechnologie der Technischen Universität Graz. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Thorsten Mattausch, BSc ist Mitarbeiter am Institut für Softwaretechnologie der Technischen Universität Graz. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Dipl.-Ing. Jürgen Fluch ist Leiter des Bereichs „Industrielle Systeme“ bei AEE INTEC. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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