Zeitschrift EE

nt 04 | 2020 Digitalisierung im Energiesektor

Das neue Forschungsgebäude von Infineon Austria und sein digitaler Zwilling

Dagmar Jähnig, Franz Hengel, Daniel Ruepp, Daniel Donesch

Im September 2020 wurde ein neues Forschungsgebäude von Infineon Technologies Austria in Villach in Betrieb genommen. Gleichzeitig wurde dort ein sogenannter digitaler Gebäudezwilling realisiert. Ein digitaler Gebäudezwilling ist eine Simulation des Gebäudes sowie der Haustechnik, die in Echtzeit durchgeführt wird. Messwerte aus dem Gebäude werden dazu mit einem Simulationsmodell gekoppelt und das Gebäudemodell kontinuierlich mit dem tatsächlichen Zustand des Gebäudes abgeglichen. Durch sogenannte „virtuelle Sensoren“ im Modell können viel mehr Informationen über das reale Gebäude gewonnen werden, da gleichzeitig eine Echtzeit-Simulation stattfindet. Diese virtuellen Sensoren können für eine Vielzahl an Möglichkeiten genutzt werden. Dazu gehören eine kontinuierliche Optimierung der Regelung z. B. durch Anpassung der Sollwerte, eine automatisierte Fehlererkennung oder auch eine genaue Verbrauchsabrechnung einzelner Gebäudebereiche.

3D Visualisierung der integralen Planung des neuen Infineon Forschungsgebäudes in Villach begleitet durch einen Building Tracker. Quelle: Arrowhead Tools Projekt

Der tatsächliche Energiebedarf sowie vielfältige Einflüsse wie Wetter, Umgebungstemperatur, Netzdienlichkeit, Integration und Nutzung von erneuerbaren Energien und nicht zuletzt das NutzerInnenverhalten können mit einem Monitoring verfolgt und Verbesserungen und mögliche Ursachen für Leistungslücken in Echtzeit vorgeschlagen werden. Mit Hilfe der Kopplung von Monitoring und Simulation durch virtuelle Sensoren ist ein innovatives Gebäudeenergiemanagement zur Erreichung von NahezuNullenergiegebäuden möglich. Facilitymanager werden bei der Analyse des Gesamtsystems durch das Aufbereiten großer Datenmengen unterstützt. Dieses Prinzip kann in weiterer Folge auf andere Gebäude und auch Quartiersverbünde angewendet werden.

Demonstrationsgebäude

Das neue Forschungsgebäude von Infineon Technologies Austria umfasst insgesamt 21 000 m² Nutzfläche mit Büroräumen, Besprechungsräumen und Laborflächen. Das Gebäude dient in dem von der EU im Rahmen von Horizon 2020 geförderten Forschungsprojekt Arrowhead Tools als Demonstrationsgebäude für die Entwicklung eines digitalen Gebäudezwillings. Ein Bereich mit zwei Großraumbüros und zwei unterschiedlich großen Besprechungsräumen sowie ein Testlabor wurden dazu mit Messtechnik ausgestattet. Diese umfasst Temperatur-, Feuchte- und CO2-Sensoren in den Räumen sowie in den dazugehörigen Lüftungskanälen. Auch die Heiz- und Kühlelemente wurden mit Wärme- bzw. Kältemengenzählern ausgestattet und alle Stromverbraucher werden erfasst. Über die CO2-Werte und auch über Bewegungsmelder kann die Belegung der Räume erfasst werden. Die Fenster sind zudem mit Kontakten ausgestattet, sodass das Öffnen der Fenster aufgezeichnet wird. Auch die Stellung der Sonnenschutzjalousien an den Fenstern wird registriert. Eine Wetterstation auf dem Dach liefert zudem Werte der Solarstrahlung auf die verschiedenen Gebäudeflächen, Temperatur-, Luftfeuchtigkeits- und Winddaten. Mit Hilfe dieser Sensorik kann eine komplette Energiebilanz der betrachteten Bereiche erstellt werden.

Büroraum des neuen Forschungsgebäudes mit Temperatur-, Feuchte- und CO2-Sensoren, Status Oktober 2020. Fotos: Infineon Technologies Austria

Seit August 2020 sind alle Sensoren installiert und über die Gebäudeleittechnik mit einem zusätzlichen Rechner, auf dem der digitale Zwilling installiert ist, verbunden.

Simulationsmodell

Die betrachteten Bereiche des Gebäudes wurden in der Software IDA ICE abgebildet. Dies inkludiert das Gebäude selbst und auch die implementierte Haustechnik, wie Heizung, Kühlung und Lüftung. Vor Bezug der Büros wurden einige Heiz-, Kühl- und Lüftungssequenzen aufgezeichnet. Das Simulationsmodell wird derzeit mit Hilfe von Messdaten kalibriert. Im Gebäudemodell wird eine Vielzahl von Parametern berechnet, die nicht gemessen werden. So zum Beispiel Temperaturen in einzelnen Bauteilen oder auch die operative Raumtemperatur, die das Temperaturempfinden der NutzerInnen deutlich besser wiedergibt als die reine Lufttemperatur. Dieser Wert wird in der Praxis wegen des hohen Aufwands so gut wie nie gemessen. Der virtuelle Wert aus dem digitalen Zwilling könnte für die Regelung der Heizung und Kühlung verwendet werden, wodurch der NutzerInnenkomfort optimiert wird. Des Weiteren können vom Simulationsprogramm an die jeweilige Situation angepasste Sollwerte oder Stellsignale an die Regelung gesendet werden. Mit dem in diesem Projekt entwickelten Verfahren können die Regelungsparameter eines Gebäudes sehr effizient an die tatsächlich im Betrieb vorhandenen Bedingungen angepasst werden. Das System kann auf aktuelle Wetterverhältnisse reagieren und sich selbstständig an wechselnde Nutzungen der Räume anpassen. Dazu zählen zum Beispiel veränderte Belegung der Büros oder geänderte Arbeitszeiten, wie auch Änderungen der Nutzungsart (z. B. Büro, Lager, Besprechungsraum etc.).

Simulationen in Echtzeit

Ein derzeit in Entwicklung befindliches Zusatztool für die Software IDA ICE, der sogenannte „Building Tracker“, soll in weiterer Folge dazu eingesetzt werden, das Simulationsmodell in Echtzeit mit den Messdaten abzugleichen. In einem ersten Schritt können bereits die von der Gebäudeleittechnik zur Verfügung stehenden Messdaten in Echtzeit in das Modell eingelesen und visualisiert werden. So können zum Beispiel die Raumlufttemperaturen in den einzelnen Räumen farbig dargestellt werden (siehe folgende Abbildung).

Echtzeit-Visualisierung von Messdaten im IDA ICE Modell. Quelle: EQUA Solutions AG

Automatische Fehlermeldung und Nutzung von Prognosewerten

Der digitale Zwilling kann außerdem für die automatisierte Fehlerdetektion genutzt werden. Bei Überschreiten von Grenzwerten können beispielsweise automatisch generiert Nachrichten an das Facility Management oder die NutzerInnen gesendet werden. Ein weiterer potenzieller Anwendungsbereich ist die Integration von Wetter- oder Nutzungsprognosen, z. B. Belegungsplänen für Besprechungsräume. Der Betrieb der Heiz-, Kühl- und Lüftungssysteme kann dadurch optimiert werden.

Potenzial der Forschungsergebnisse

Durch die in diesem Projekt entwickelte Technologie wird eine höhere Energieeffizienz und besserer NutzerInnenkomfort angestrebt. Dieser Mehrwert ist in erster Linie für den Bauherren und die NutzerInnen eines Gebäudes interessant. Die Möglichkeit, die Regelung im laufenden Betrieb eines Gebäudes an die aktuellen Bedingungen anzupassen, bietet aber auch HaustechnikplanerInnen und Regelungsherstellern den Vorteil, ihren KundInnen einen weiteren Benefit in Bezug auf Qualitätssicherung über die gesamte Gebäudenutzungsphase anbieten zu können.

Großvolumige Neubauten und Bestandssanierungen bilden den Markt für die Anwendung des digitalen Gebäudezwillings. Als besonders geeignet erscheinen Büro- und Gewerbegebäude sowie öffentliche Gebäude. Aber auch Geschoßwohnbauten sowie Quartiere mit gemischter Nutzung versprechen großes Potenzial. Das Verfahren lässt sich besonders kostengünstig umsetzen, wenn schon in der Planungsphase ein digitaler Zwilling des Gebäudes im Rahmen eines Gebäudeinformationsmanagements (Building Information Modeling - BIM) erstellt wird. Da die Anwendung von BIM in der Praxis zunimmt, bieten sich gute Möglichkeiten für das neu entwickelte Building Tracker System, das im Rahmen des Projekts Arrowhead Tools mit verschiedenen Funktionalitäten weiterentwickelt und sowohl im Labor als auch in der realen Anwendung getestet und optimiert wird.

Danksagung

Die hier beschriebenen Arbeiten wurden im laufenden EU-Projekt Arrowhead Tools for Engineering of Digitalisation Solutions durchgeführt, dem derzeit größten EU-Projekt zur Digitalisierung in der Industrie (EU ECSEL Joint Undertaking, Vertragsnummer 826452).

Statement

"Als Anwender und Anbieter von Produkten und Lösungen, die die Digitalisierung ermöglichen, ist dieses Projekt für uns ein Beispiel für gelebte Digitalisierung. Ziel ist es, mehr Echtzeitdaten über Sensoren vom Gebäude zur Verfügung zu stellen, um die Gebäudetechnik energieeffizient zu steuern, die Betriebskosten zu senken und das Raumklima zu verbessern. Neben dem geringeren Energieverbrauch wirkt sich das auch klar auf den Komfort für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus."

Oliver Heinrich, Finanzvorstand Infineon Technologies Austria

Autoren

Dipl.-Ing. Dagmar Jähnig, MSc. und Dipl.-Ing. Franz Hengel sind wissenschaftliche Mitarbeiter des Bereichs „Gebäude“ bei AEE INTEC. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Ing. Daniel Donesch ist bei Infineon Technologies Austria AG Spezialist für Facility Planning und Infrastructure Investment. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Dipl.-Ing. Daniel Ruepp ist als Fachingenieur für Gebäudesimulation bei EQUA Solutions AG tätig. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Weiterführende Informationen

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