Zeitschrift EE

nt 03 | 2020: Innovative Demonstrationsgebäude

Umfassende Untersuchung und Bewertung von Anergienetzen

Michael Salzmann, Lorenz Leppin, Harald Schrammel, Ingo Leusbrock

Kalte Fernwärme (KaFe) und Anergienetze bieten durch Systemtemperaturen <30°C enorme Vorteile: niedrig-exergetische Wärmequellen wie Abwärme oder Erneuerbare werden besser nutzbar, Transportverluste fast völlig eliminiert und mit der gleichen Infrastruktur sowohl Wärme als auch Kälte bereitgestellt. Dies birgt erhebliches Potenzial zur Senkung des derzeitigen Endenergieverbrauches bei gleichzeitiger Kosteneffizienz. Die erhöhte Komplexität und Anzahl an interagierenden Komponenten gegenüber konventionellen netzgebundenen Versorgungskonzepten birgt jedoch große Herausforderungen für eine langfristige Planung und Erweiterbarkeit und für die Auslegung und den täglichen Betrieb dieser Systeme. Im Rahmen des Projektes DeStoSimKaFe wurden diese Fragestellungen durch ein internationales Expertenteam umfassend bearbeitet und somit die Umsetzbarkeit innovativer und nachhaltiger Wärme- und Kälteversorgung auf Basis kalter Fernwärme verbessert.

Anergienetz Familienheimgenossenschaft Zürich (FGZ) mit bestehender Anergieleitung (hellblau), geplanter Erweiterung (grün), Energiezentralen der Verbraucher (blaue Punkte), welche die hochtemperaturigen Sekundärnetze (rot) versorgen. Das Netz wird durch die Abwärme zweier Rechenzentren (orange) versorgt und speichert diese saisonal in Erdsondenspeichern (grau). Quelle: AEE INTEC, anex Ingenieure AG, geodienste.ch 

Modellentwicklung für Planung und dynamische Detailanalysen - Validierung an bereits realisiertem Anergienetz

Für die Entwicklung ganzheitlicher Systemlösungen sind validierte Simulationen und Langzeituntersuchungen unerlässlich. Mit der Software DYMOLA wurden zwei Modelle unterschiedlichen Detaillierungsgrads entwickelt: Ein vereinfachtes Modell zur raschen Konzeption und Erstbewertung von kalten Fernwärmesystemen und verschiedenen Systemoptionen (z. B. Langzeit-Energiebilanzierung über 30 Jahre), sowie ein detailliertes thermohydraulisches Modell für dynamische Langzeitsimulationen und Detailanalysen. In beiden Modellen sind unterschiedliche Systemkomponenten wie z. B. Wärmepumpen, Erdsondenspeicher, PVT-Kollektoren oder Zusatzheizsysteme integriert und können beliebig erweitert werden.

Die entwickelten Modelle konnten mittels Messdaten eines bestehenden Anergienetzes der Familienheimgenossenschaft Zürich (FGZ) validiert werden. Die Daten wurden vom Schweizer Projektpartner anex Ingenieure AG zur Verfgügung gestellt. Die FGZ ist eine Wohnkooperative im Südwesten Zürichs mit 2300 Wohnobjekten, in denen rund 5700 Menschen leben. 2011 wurde damit begonnen, Teile des Areals über ein Anergienetz zu verbinden. Das Netz wurde in den folgenden Jahren ausgebaut und um zusätzliche Einspeiser, Verbraucher sowie thermische Langzeitspeicher erweitert. Zwei Rechenzentren versorgen das Anergienetz durch Niedertemperatur-Abwärme. Als Speicher dienen mehrere Erdsondenfelder. Die gute Datenlage und detaillierte Messwertaufzeichnung bildete eine solide Basis zur Validierung der entwickelten Simulationsmodelle.

Entwicklung und Anwendung technischer Systemlösungen für potenzielle Demonstrationsprojekte

Ein wichtiges Element des Projekts war die Bewertung von potenziellen Demonstrationsprojekten für die Wärme- und Kälteversorgung mittels Kalter Fernwärme und Anergienetz, die durch Projektpartner und interessierte Stakeholder eingebracht wurden. Somit konnten mit unterschiedlichen Ausgangssituationen und realen Rahmenbedingungen technische Systemlösungen für kalte Fernwärmesysteme erarbeitet und konkrete Empfehlungen für eine baldige Umsetzung geliefert werden.

Beispiel Krankenhaus

Ein Krankenhausareal soll sukzessive umgebaut, erneuert und größtenteils über ein neu zu errichtendes Anergienetz mit Wärme und Kälte versorgt werden. Da Krankenhäuser durch ihre technische Ausrüstung über große Kühlbedarfe verfügen, können die Gebäude auch als Wärmelieferanten genutzt werden. Die vor allem im Sommer produzierten Wärmeüberschüsse können über einen Langzeitwärmespeicher in Form eines (ebenfalls sukzessive erweiterbaren) Erdsondenfeldes in die Heizsaison überführt werden. In Kombination mit Heiz- und Kühllastprofilen wurde in einer Langzeitsimulation über 20 Jahre untersucht, wie sich die Speichertemperaturen verhalten und ob die projektierten Erdspeicher groß genug dimensioniert sind, um das Areal energietechnisch zu versorgen.

Ein beispielhaft untersuchtes Szenario zeigt, dass trotz steigender Anzahl an Abnehmern und Erdsondenfeldern die Bohrlochtemperatur über den betrachteten Zeitraum hinweg steigt und Wärmeüberschüsse vorhanden sind (siehe Abbildung). Somit steht sogar noch Potenzial für weitere Abnehmer zur Verfügung. Im Falle dieses Projekts kann eine erneuerbare Wärme- und Kälteversorgung ohne externe Wärmequellen realisiert werden.

Oben: Mittlere Bohrlochtemperaturen der Erdsondenfelder (ESF), im Monatsmittel gleichbedeutend mit mittlerer Anergienetztemperatur (geplante Erweiterungen ESF 2-3); Unten: Gesamter Wärme- und Kältebedarf des Krankenhausareals (Monatssummen); Erweiterung der Erdsondenfelder bedeutet Anschluss weiterer Verbraucher / Einspeiser an das Netz. Quelle: AEE INTEC

Beispiel Neubau Stadtquartier

Gemeinsam mit Gemeinde, Bauträger und Energieversorger wurde ein weiteres Umsetzungsprojekt in einer frühen Projektierungsphase untersucht und verschiedene Systemkonzepte entwickelt, simuliert und wirtschaftlich bewertet. Dabei ging es um den Neubau eines Stadtquartiers für rund 900 EinwohnerInnen am Stadtrand mit Mehrfamilien-, Doppel- und Einfamilienhäusern, Kindergarten und geringem Anteil an Gewerbebetrieben (vgl. nachfolgende Abbildung). Ziel war es, ein Anergienetzkonzept mit einer klassischen Biomasse-Nahwärmelösung zu vergleichen. Der wesentliche limitierende Faktor in diesem Vorhaben war, dass keine geeignete Abwärmequelle in vertretbarer Entfernung zum Versorgungsgebiet lag. Das Anergienetz wurde mit dezentralen Wärmepumpen, Erdsondenspeichern und PVT-Kollektoren zur Regeneration konzipiert, dimensioniert und simuliert. Ein geringer Anteil an Gebäudekühlung und eine begrenzte Wärmerückgewinnung aus Abwasser wurden ebenso berücksichtigt. Für das Biomasse-Konzept wurden Stahlrohre mit Mantelisolierung, beim Anergienetz hingegen nur unisolierte Kunststoffrohre verwendet. Dies trug dazu bei, die Investitionskosten für das Anergienetz gering zu halten. Wichtigster Outcome dieser Betrachtungen war, dass sich das Anergienetz bei den gegebenen Rahmenbedingungen zwar technisch, aber nicht wirtschaftlich darstellen ließ. Lokale und kostengünstige Niedertemperatur-Abwärmequellen (z. B. Gebäude- oder Prozesskühlung) sind essentiell für die Realisierung eines Anergienetzes. Die sonst relativ groß zu dimensionierenden Erdsondenfelder und die aktive Regeneration der Erdsonden z. B. über PVT erhöhen die Investitionskosten stark.

Verteilerrohrnetz eines Modellquartiers mit Mehrfamilien-Wohngebäuden mit öffentlicher Nutzung (blau), Mehrfamilienhäusern (grün), Doppelhäusern (rot) und Einfamilienhäusern (orange). Blaues Rohr: Verteilerrohrnetz, rote Rohre: Verteilstränge nach Energiezentrale (Sekundärseite), gelbe Punkte: Energiezentralen Quellen: AVORIS GmbH, AEE INTEC, google maps, data.gv.at- Open Data Österreich

Zukunftsszenarien mit Design of Experiment

Die validierte Simulationsumgebung wurde außerdem verwendet, um eine Methode zur systematischen Analyse zukünftiger Entwicklungsszenarien zu entwickeln. Diese beruht auf einem „Design of Experiment (DoE)“-Ansatz und wurde mit Hilfe des Tools ModdePro realisiert. Damit wurden eine Vielzahl von exogenen Einflussparametern wie demographische Änderungen und Klimawandel systematisch kombiniert, um diejenigen Kombinationen zu identifizieren, die den größten Einfluss auf das System jetzt und in der Zukunft aufweisen. Durch statistische Versuchsplanung ist es möglich, die Anzahl der erforderlichen Detailsimulationen zu verringern und trotzdem alle signifikanten Möglichkeiten für eine Systemkonfiguration abzudecken. Mit dieser Analyse konnte gezeigt werden, welche Parameter (z. B. CO2-Preise, Bevölkerungsanstieg, Klimaveränderungen) sich wie stark auf die für die Entscheidungsfindung relevanten Indikatoren auswirken. Hierdurch konnte schlussendlich beurteilt werden, wie und in welchem Rahmen sich die Anforderungen an Anergienetze und deren Wirtschaftlichkeit in Zukunft ändern können. Dieser Schritt bedeutet einen erheblichen Kenntnisgewinn gegenüber konventionellen Planungsansätzen, da hiermit auch für zukünftige Entwicklungen bereits jetzt weitreichende quantitative Rückschlüsse möglich sind.

Zunehmende Realisierung von kalten Fernwärmesystemen

In der Branche herrscht verstärktes nationales und internationales Interesse an der Realisierung von kalten Fernwärmesystemen, was sich in einer steigenden Anzahl an Umsetzungsprojekten und an den intensiven F&E-Aktivitäten in diesem Bereich zeigt.

Die technische und wirtschaftliche Machbarkeit wird bereits durch einige Leuchtturmprojekte mit der Schweiz als Vorreiter (Anergienetze, Kalte Fernwärme auf Basis Abwasser und Seewassernutzung,...), bzw. Projekte in konkreter Planung in Deutschland, Schweden und anderen Ländern in Form kleinerer Nahwärmelösungen oder der Versorgung ganzer Stadtquartiere belegt. In Österreich wird im Herbst 2020 das Projekt Anergy2Plus mit Beteiligung von AEE INTEC gestartet, wo in Herzogenburg ein innovatives Anergienetz zur Versorgung einer neuen Wohnsiedlung mit Mischnutzung umgesetzt wird.

Kalte Fernwärme wird in Zukunft zwar Fernwärmesysteme auf höherem Temperaturniveau nicht vollständig ersetzen, aber zweifellos eine wichtige Rolle in der zukünftigen Wärme- und Kältebereitstellung spielen und es ermöglichen, bislang nicht erschlossene Niedertemperatur-Wärmequellen nutzbar zu machen.

Autoren

Dipl.-Ing. Michael Salzmann, BSc., Lorenz Leppin, MSc., BSc. und Dipl.-Ing. Harald Schrammel sind wissenschaftliche Mitarbeiter des Bereichs „Städte und Netze“ bei AEE INTEC. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

Dr. Ingo Leusbrock ist Leiter des Bereichs „Städte und Netze“ bei AEE INTEC.

Weiterführende Informationen

www.destosimkafe.aee-intec.at

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