„Die Klimakrise wird wegen der Coronakrise nicht verschwinden“
Margit Schratzenstaller, eine der renommiertesten Wirtschaftsforscherinnen Österreichs, warnt davor, jetzt bei Zukunftsthemen wie dem Klimaschutz, der Kreislaufwirtschaft oder der Armutsbekämpfung nachzulassen.
Interview: Diethold Schaar, Doris Hammermüller
Beginnen möchten wir gerne mit der Frage, ob wir gerade ein Auseinanderdriften der Welt erleben, weil viele Länder in unterschiedlicher Geschwindigkeit auf das Coronavirus reagiert haben, was direkte Auswirkungen auf die jeweiligen Volkswirtschaften haben wird?
Margit Schratzenstaller: Die Corona-Krise birgt in der Tat die Gefahr, bestehende regionale Ungleichheiten zu verstärken. Die armen Länder des Südens haben weniger Ressourcen, um die gesundheitlichen und ökonomischen Folgen der Pandemie abzufedern: Es fehlt an Gesundheitsinfrastruktur und sozialer Absicherung, und es ist zu befürchten, dass viele Menschen unter die Armutsgrenze rutschen. In der EU sehen wir, dass Länder wie Italien oder Spanien, die besonders stark betroffen sind, weniger Spielraum haben, die wirtschaftlichen Folgen der gesundheitspolitischen Maßnahmen abzumildern. Ohne Transferzahlungen der relativ stabilen Länder des Nordens wird die Corona-Krise die ökonomische Divergenz in der EU verstärken. Das birgt natürlich sozialen und politischen Sprengstoff.
Margit Schratzenstaller. Foto: Alexander Mueller
Wie wird sich die Corona-Krise auf den Welthandel auswirken? Stichworte: Lieferketten oder mehr Eigenproduktion zur Versorgungssicherheit. Wie viel Chance steckt darin, diese Veränderungen auch für eine Ökologisierung zu nutzen?
Die Corona-Krise hat eine intensive Debatte über die Zukunft der Globalisierung ausgelöst. Vielfach wird thematisiert, dass globale Lieferketten, aber auch ausländische Medikamenten- und Lebensmittelproduktionen die Widerstandsfähigkeit von Volkswirtschaft und Gesellschaft im Krisenfall schwächen. Allerdings sind Erwartungen, dass die Coronakrise eine Deglobalisierung fördern wird, wohl verfrüht. Zudem darf nicht übersehen werden, dass die internationale Vernetzung in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern zur Armutsbekämpfung beitragen kann, und auch in offenen Volkswirtschaften wie Österreich der Wohlstand zu einem erheblichen Teil auf der internationalen Verflechtung beruht. Statt den – vermutlich vergeblichen – Versuch zu starten, die Globalisierung wieder zurückzudrehen, sollte sie politisch gestaltet werden: Etwa in Form von Sozial- und Umweltstandards in Handelsabkommen, oder durch die Erhöhung von Transportkosten mittels einer angemessenen CO₂-Bepreisung, in die auch der internationale Flug- und Schiffsverkehr einbezogen wird.
Wie dramatisch ist die Krise?
Die Krise ist ökonomisch gesehen kurzfristig relativ dramatisch. Das WIFO rechnet für heuer mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von 5¼ Prozent, bei einem pessimistischeren Szenario sogar von 7½ Prozent; und es wird ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 8¾ Prozent prognostiziert. Ende April waren fast 1,2 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit. Allerdings sollte durch die Lockerungen seit Ostern – unter der Bedingung, dass sich die gesundheitspolitische Lage nicht wieder verschlechtert – die Wirtschaft allmählich wieder an Fahrt aufnehmen, und 2021 sollte das Wirtschaftswachstum wieder positiv ausfallen. Auch für das Budgetdefizit wird für 2020 mit 7,5% des BIP ein historischer Höchststand erwartet. Aufgrund der relativ guten budgetären Ausgangslage und der weiterhin günstigen Finanzierungskonditionen bringt jedoch der erwartete Anstieg der Staatsschulden auf ca. 80 % des BIP derzeit keine Probleme für die Schuldentragfähigkeit mit sich.
Werden die budgetierten Mittel zur Bewältigung ausreichen?
Österreich hat ein umfangreiches Paket zur Milderung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie auf Erwerbstätige und Unternehmen verabschiedet, das sich mit knapp 10 Prozent des BIP auch im internationalen Vergleich sehen lassen kann. Ob die Mittel ausreichen, wird sich zeigen. Die Regierung hat jedenfalls betont, dass sie die Maßnahmen aufstocken wird, „koste es, was es wolle“, wenn noch mehr Mittel erforderlich sein sollten.
Welche übergeordneten Ziele sollten die Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft kurzfristig und mittel- bzw. langfristig verfolgen?
Die kurzfristigen Rettungsmaßnahmen sollten primär auf die Vermeidung von Unternehmensinsolvenzen und von Massenarbeitslosigkeit bzw. des Erhalts von Arbeitsplätzen abzielen. Sobald die Wirtschaft schrittweise wieder hochgefahren werden kann, werden konjunkturstabilisierende Maßnahmen erforderlich sein. Diese sollten möglichst in die ohnehin erforderlichen Ansätze zur sozio-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft eingebunden werden.
In diesem Zusammenhang sind mehrere Ziele von besonderer Bedeutung. Es gilt, die Robustheit von Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber internationalen Störungen zu stärken. Zudem ist die Wettbewerbsfähigkeit durch permanente Innovation zu verbessern, die insbesondere an Klimaschutzüberlegungen bei Prozessen, Produkten und Dienstleistungen gekoppelt werden soll. In diesem Zusammenhang sind die neuen Herausforderungen durch die Kreislaufwirtschaft und die Pariser Klimaziele besonders relevant. Zu beachten sind auch soziale Aspekte: Eine akzeptable Verteilung von Einkommen und Vermögen, aber auch die Armutsbekämpfung sowie die Gleichstellung von Frauen und Männern. Die Corona-Krise weist darüber hinaus sehr deutlich auf die Wichtigkeit der europäischen und globalen Dimension hin. Die Bekämpfung der Pandemie selbst, aber auch ihrer ökonomischen und sozialen Konsequenzen erfordern internationale Kooperation. Die Unterstützung der von der Corona-Krise besonders betroffenen Mitgliedstaaten der EU beispielsweise ist nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern auch im ökonomischen Interesse der stärkeren Mitgliedstaaten.
Gibt der „Green Deal“ der EU einen guten Leitfaden für die geplanten Maßnahmen vor und gibt es österreichische Spezifika, die darin nicht berücksichtigt worden sind?
Der „Green Deal“ der EU spricht wichtige Bereiche an, in denen auf EU-Ebene die Klimaschutzmaßnahmen der Mitgliedsländer unterstützt und ergänzt werden können: Von der Kreislaufwirtschaft über den Gebäude- und Landwirtschaftsbereich sowie Biodiversität bis hin zu einem CO₂-Grenzausgleichssystem zum Schutz der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Er gibt damit in der Tat einen hilfreichen Leitfaden für die Wirtschaftspolitik in und nach der Corona-Krise vor. Nicht österreichspezifisch, sondern generell sind, über den Just-Transition-Fonds hinaus, Verteilungsaspekte stärker zu thematisieren. Und es wird sich zeigen, ob es gelingt, in einigen zentralen Bereichen, in denen die EU auch Kompetenzen hat, die erforderlichen Klimaaspekte auch tatsächlich zu integrieren: Etwa bei den Fiskalregeln, im nächsten EU-Budget oder im europäischen Semester.
Entscheidend ist nun, dass der„Green Deal“ trotz Corona-Krise wie geplant umgesetzt wird. Dann kann er auf EU-Ebene einen wirksamen Beitrag auch zur Überwindung der ökonomischen Probleme im Gefolge der Corona-Krise leisten. Die jüngsten Ankündigungen der Europäischen Kommission, wegen der Corona-Krise Teile des „Green Deal“ zu verschieben, halte ich für problematisch: Die Klimakrise wird ja wegen der Corona-Krise nicht weggehen, und der „Green Deal“ könnte im Gegenteil den EU-Ländern dabei helfen, sich aus der Krise heraus zu investieren.
Welche ganz konkreten Maßnahmen schlagen Sie der österreichischen Bundesregierung zur Ankurbelung der Wirtschaft unter ökologischen Aspekten vor?
Die Maßnahmen, die vor der Krise als im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung notwendig erkannt wurden und teilweise schon geplant waren, sollten im Rahmen eines Konjunkturpakets tatsächlich umgesetzt werden: insbesondere die im Regierungsprogramm vorgesehenen zusätzlichen Ausgaben für die Erreichung der Klimaziele. Besonders wichtig sind die Bereiche öffentlicher Verkehr und Gebäude. Gleichzeitig sollte an der ab 2021 geplanten Ökologisierung des Steuersystems festgehalten werden.
Was würden sie davon halten, wenn die Kredithaftungen, die jetzt vergeben werden, durch ein einfaches Förderprogramm – z. B. ähnlich dem 100-Punkte-Modell der NÖ-Wohnbauförderung – zu Ökologisierungsmaßnahmen führen würden. Was könnte so etwas kosten und was könnte es mittelfristig bringen?
Die Soforthilfemaßnahmen sollten so rasch und unbürokratisch wie möglich umgesetzt werden. Jetzt geht es primär um die Verhinderung von Insolvenzen und den Erhalt von Arbeitsplätzen. Der Spielraum, die Maßnahmen an ökologische Kriterien zu knüpfen, ist daher begrenzt. Denkbar wäre vielleicht, ein Inno vations-Bonus-Paket, das allen Anspruchsberechtigten einen Bonus von beispielsweise zusätzlich 20 Prozent anbietet, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eine unterstützende klimarelevante Aktivität vorweisen – zum Beispiel Zusatzausbildungen der Beschäftigten zur Erweiterung ihrer Qualifikation, die auf die Veränderungen bei der künftigen Rolle der Arbeit vorbereiten, oder Verbesserungen bei Produkten in Design, Produktion und Vermarktung, mit denen Langlebigkeit, Reparatur- und Kreislauffähigkeit unterstützt werden.
Wie realistisch ist es, dass der „Green Deal“ der EU globale Umweltstandards setzen kann?
Wenn es gelingt, die ehrgeizigen EU-Klimaziele umzusetzen und eine nicht nur ökologisch, sondern auch sozial und ökonomisch nachhaltige Transformation zu schaffen und sich damit als international wahrgenommenes Erfolgsmodell zu positionieren, kann das durchaus ein globales Nachziehen bewirken. Ein Element, das Anreize für eine Dekarbonisierung weltweit schaffen kann, ist der geplante CO₂-Grenzausgleichsmechanismus, der dafür sorgt, dass Importe aus Drittländern, die sich nicht an die hohen EU-Ambitionen zur Senkung von Treibhausgasen anpassen, einen entsprechenden CO₂-Preis bekommen.
Wie sehen Sie die Zukunft der Fluglinien und des Tourismus – national und international?
Die geltenden Beschränkungen im Luftverkehr und der Reisefreiheit generell könnten einerseits das Bewusstsein für die Nachhaltigkeitsdefizite unseres bisherigen Mobilitäts- und Freizeitverhaltens generell erhöhen und auch die Suche nach Alternativen inspirieren. Andererseits besteht die Gefahr eines Nachholeffektes, dass also nach erfolgreicher Überwindung der Gesundheitskrise das (vermeintlich) Versäumte beispielsweise in Form von umso mehr Fernreisen, die das Klima belasten, nachgeholt wird. Die Politik auf nationaler wie europäischer Ebene hat hier aber durchaus einen Einfluss, wenn sie die Corona-Krise als Chance nutzt, in ökologisch nachhaltigere Mobilitätsstrukturen und einen ökologisch nachhaltigeren, regionaleren Tourismus zu investieren.
Frau Schratzenstaller, herzlichen Dank für das Interview.