Zeitschrift EE

 nt 03 | 2022 Speicheroption Bauteilmasse

Verbesserung der Datenqualität als Missing Link für die Digitalisierung der Fernwärme

Vom berühmten Philosophen Immanuel Kant ist das Zitat überliefert „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“. Damit verdeutlichte er, dass Wissen erst durch die Verbindung von Sinnlichkeit und Verstandestätigkeit zustande kommt. In eine moderne technische Sprache übersetzt könnte man sagen, dass die Generierung von Know-how immer eine Kombination von belastbaren Daten und validen Berechnungsmethoden voraussetzt.

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Datengetriebene Methoden zur Optimierung des Netzbetriebs

Das laufende Sondierungsprojekt EnableDigitalDH setzt sich mit der Verknüpfung von Daten und Berechnungsmethoden im Fernwärmesektor auseinander. AEE INTEC und das Forschungszentrum Know-Center, arbeiten in diesem Projekt interdisziplinär zusammen. Durch die verstärkte Vernetzung von erneuerbaren Energieträgern, Speichern, Gebäuden und Prosumern sowie der Koppelung des Wärme- und Stromsektors in Fernwärmenetzen der 4. Generation steigen die Anforderungen an eine effiziente, flexible und zuverlässige Betriebsführung [1]. Datengetriebene Analyse-, Prognose- und Fehlerdetektionsmethoden bieten vielfältige Möglichkeiten zur Optimierung des Netzbetriebs. Ein typischer Anwendungsfall ist die Verbesserung von Lastprognosen, um Lastspitzen zu antizipieren und nachfrageseitige Maßnahmen zu setzen (Demand Side Management) und die Einsatzreihenfolge von Erzeugern vorrausschauend zu planen (Load Side Management) [2]. Dafür kommen Machine Learning Techniken wie Neuronale Netzwerke, Support Vector Machine oder regressionsbasierte Verfahren zum Einsatz, die wissenschaftlich gut erforscht und validiert sind.

Verfügbare Datenbasis

Die Anwendung dieser Techniken setzt Daten in einer entsprechenden Qualität voraus. Neben Betriebsdaten von Erzeuger- und Netzseite sind für Fernwärmenetze auf Kundenseite oft zeitlich hochaufgelöste Daten von Wärmeübergabestationen vorhanden, die kontinuierlich an den Netzbetreiber übermittelt werden. Diese umfassen die auf den Regler aufgeschalteten Messkanäle wie Leistung, Volumenstrom, Temperaturen und Ventilstellungen. Pro Wärmeübergabestation werden bis zu 50 Kanäle und für das gesamte Netz oft mehrere tausend Datenpunkte aufgezeichnet.

Diese Datenbasis kann aufgrund mangelnder Datenqualität oftmals nicht für die datengetriebene Optimierung verwendet werden. Reale Messdaten sind nie perfekt. In der Praxis führen der partielle Ausfall von Sensoren oder Probleme bei Aufzeichnung, Speicherung und Übertragung zu fehlenden Aufzeichnungsintervallen, physikalisch unplausiblen Werten, Ausrei- ßern, Duplikaten oder sonstigen Anomalien.

Bei schlechter Datenqualität liefern datengetriebene Methoden keine oder verzerrte Ergebnisse. Ein im Rahmen des Projekts durchgeführter Review von 69 wissenschaftlichen Papers zeigte, dass 80 Prozent der Publikationen über Fernwärmeanwendungen Messdaten verwenden (20 Prozent verwenden Simulationsdaten), wovon 49 Prozent über Probleme mit Messdaten berichten. Für die Detektion von Ausreißern kommen fast ausschließlich einfache Methoden wie der gleitende Median zum Einsatz, bei fehlenden Daten ist lineare Interpolation am häufigsten. Die eingesetzten Methoden für den Umgang mit schlechter Datenqualität werden dabei selten detailliert beschrieben, sodass die Auswirkungen auf die Ergebnisse im Dunkeln bleiben.

Nutzung von Data Science und simulationsbasierten Methoden zur Verbesserung der Datenqualität

Im Sondierungsprojekt wurden anhand realer Messdaten von Fernwärmenetzen Data Science-Methoden entwickelt und evaluiert, um die Datenqualität und damit die Robustheit, Präzision und Anwendbarkeit von datengetriebenen Methoden für den Fernwärmesektor zu verbessern. Ergebnis ist eine „Data Cleaning Pipeline“ für Zeitreihendaten, um typische Fehlermuster von Fernwärmedaten (z. B. Ausreißer) zu erkennen und zu korrigieren. Dazu wurden verschiedene Methoden (z. B. Isolation Forest, Robust Kernel Density Estimation, Subspace Outlier Detection) verglichen. Insgesamt zeigten sich ein stark variierender Reifegrad für Fernwärmeanwendungen und signifikante Unterschiede in Effizienz, Effektivität und Abhängigkeit der Machine Learning Algorithmen von den gewählten Feintuning-Einstellungen (sogenannte „Hyperparameter“). Keine der untersuchten Methoden zeigte für alle Datenprobleme die besten Resultate, womit in der Praxis die Auswahl der besten Methode immer auf den konkreten Anwendungsfall abgestimmt werden muss.

Ein gänzlich neuer, im Projekt entwickelter Ansatz für den Umgang mit Datenlücken, ist die simulationsbasierte Generierung von fehlenden Messdaten. Diese Data Imputation-Methode eignet sich besonders für längere Datenlücken bzw. den gleichzeitigen Ausfall mehrerer Kanäle (z. B. Ausfall von Abnehmerdaten über einige Tage). Zur Schließung solcher Datenlücken ist eine vertiefte Kenntnis des Netzes oder Subnetzes bis zur Ebene einzelner Komponenten nötig. Im Gegensatz zu Machine Learning-Techniken setzt dies Domänenwissen in Form von physikalischen Zusammenhängen (Temperatur- und Druckverteilungen, Pumpenleistungen, etc.) voraus. Zur Illustration der Methodik ist in untenstehender Abbildung das Vorgehen für die Ergänzung von Datenlücken im Fall von Plattenwärmeübertragern dargestellt. Nach der automatisierten Detektion der Datenlücken wird ein Simulationsmodell ausgewählt, das fehlende Datenkanäle als Simulationsoutput hat. Dieses wird mit Messdaten unmittelbar vor dem Auftreten der Datenlücke initialisiert, eine Simulation für den fehlenden Zeitraum durchgeführt und fehlende Messdaten schließlich durch Simulationsdaten ersetzt. Das Vorgehen ist vollständig automatisierbar.

Workflow für die simulationsbasierte Data Imputation-Methode am Beispiel eines Plattenwärmeübertragers. Quelle: AEE INTEC

Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass sowohl Data Science- und Data Imputation-Methoden leistungsfä- hige Methoden für die Verbesserung der Datenqualität von Messdaten von Fernwärmenetzen sind und einen entscheidenden Schritt zur Digitalisierung beitragen können.

Weiterführende Informationen

[1] H. Lund et al., “The status of 4th generation district heating: Research and results,” Energy, vol. 164, pp. 147–159, 2018, doi: 10.1016/j.energy.2018.08.206.

[2] C. Ntakolia, A. Anagnostis, S. Moustakidis, and N. Karcanias, “Machine learning applied on the district heating and cooling sector: a review,” Energy Syst, vol. 13, no. 1, pp. 1–30, 2022, doi: 10.1007/s12667-020-00405-9.

Autor*innen

Marnoch Hamilton-Jones, M. Eng. und Dipl.-Ing. Mag. Daniel Tschopp sind wissenschaftliche Mitarbeiter des Bereichs „Technologieentwicklung - Erneuerbare Energien” bei AEE INTEC. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Basak Falay, M.Sc. und Lorenz Leppin, M.Sc. sind wissenschaftliche Mitarbeiter des Bereichs „Städte und Netze”

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