Zeitschrift EE

nt 03 | 2020: Innovative Demonstrationsgebäude

Energielösung Mühlgrundgasse Wien setzt Maßstäbe für klimafitte Gebäudeenergieversorgung

Thomas Kreitmayer

Der Klimawandel bringt mit erschreckender, beinahe schon jährlicher Regelmäßigkeit einen neuen Jahrhundert-Rekordsommer mit sich. Hitze- und Trockenperioden dauern länger an, die Zahl der Tropennächte steigt und das Problem der sommerlichen Überwärmung rückt zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Als Konsequenz fehlender Bewältigungsstrategien werden immer mehr energie- und kostenintensive Klimageräte eingesetzt, die ihrerseits das Problem der urbanen Hitzeinseln weiter verschärfen.

Foto: Stadt Wien / C. Fürthner

Auf nationaler wie internationaler Ebene werden Ziele formuliert, wonach Europa bis 2050 Klimaneutralität erreichen soll. Für das Energiesystem der Zukunft bedeutet das, dass man sich künftig wieder auf die nach menschlichem Ermessen unendlichen Potenziale der Sonne, der Geothermie und auf sich daraus ableitende Energieformen, wie etwa Wind, konzentrieren wird.

Für mehr als ein Drittel des globalen Energieverbrauches und die damit verbundenen Emissionen zeichnet der Gebäudesektor verantwortlich (IEA – 2019 Global Status Report for Buildings and Construction). Gebäude sollen daher künftig so wenig Energie benötigen, dass der verbleibende Bedarf durch ein Maximum an erneuerbaren Ressourcen gedeckt werden kann. Ferner sollen Gebäude zu aktiven Playern im Energiesystem der Zukunft werden und neben ihrer klassischen Rolle als Verbraucher auch als Erzeuger, als Speicher und als Netzdienstleister auftreten. Die Energieversorgung von Gebäuden soll bis 2050 weitestgehend klimaneutral erfolgen.

Wohnanlage Mühlgrundgasse im 22. Wiener Gemeindebezirk (MGG22)

Mit dem Anspruch, Urbanität und Leben in der Stadt neu zu definieren, hat ein entschlossenes Planungsteam rund um die gemeinnützige Bau-, Wohn- und Siedlungsgenossenschaft Neues Leben und m²plus-Immobilien ein in vielerlei Hinsicht neuartiges Wohnquartier geschaffen. Unweit der U-Bahnstation Stadlau und gleichzeitig am Eingangstor zum Erholungsgebiet Lobau befindet sich das Projekt MGG22. Die Anlage verfügt über ca. 160 Mietwohnungen in den unterschiedlichsten Größen. Bei einem Drittel der Objekte handelt es sich um geförderten Wohnbau.

Auf insgesamt 4 Bauplätzen wurde ein grundstücksübergreifendes städtebauliches Konzept umgesetzt, das sich durch vier zentrale Freiflächen, eine offene kleinteilige Gebäudestruktur und einen nachbarschaftlichen Gemeinschaftsgarten charakterisiert. Ein für das Vorhaben prägender Leitgedanke war, nicht nur zeitgemäßen Wohnraum, sondern zukunftsweisenden Lebensraum zu schaffen, der auch in der Freizeit zum Verweilen einlädt und damit dem Trend der Stadtflucht ins grüne Umland entgegenwirkt. Die meist nach Süden und Westen ausgerichteten Balkone und Terrassen der querlüftbaren Wohnungen (Nachtlüften) können begrünt und bepflanzt werden. Stahlstrukturen, Pergolen, Niro-Seile etc. sind bauseits vorgesehen. Dem Motto der „essbaren Stadt“ folgend, sind die gemeinschaftlichen Freiflächen sowie die Abgrenzungen von privaten Freiflächen zum halböffentlichen Raum mit Obstbäumen, Beerensträuchern und Kräuterbeeten gestaltet. Spielplätze, Sitzgruppen, Gemüsebeete, das naheliegende Mühlwasser und schließlich das Erholungsgebiet der Lobau bieten den Bewohner-innen und Bewohnern aller Altersgruppen unzählige Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung.

Foto: Stadt Wien / C. Fürthner

Ausschließlich Erneuerbare Energie zur Energieversorgung

Ein Alleinstellungsmerkmal von MGG22 stellt sein innovatives Energiekonzept dar, welches von FIN – Future is Now, Kuster Energielösungen GmbH entwickelt wurde. Eine zentrale Komponente ist die thermische Bauteilaktivierung der Zwischendecken, wobei die Stahlbetondecken wirklich im Kern und nicht nur in der äußeren Bauteilschicht aktiviert werden. Die Wohnungen mit einem HWB von 24 bis 28 kWh/m²a können dadurch sowohl geheizt, als auch moderat gekühlt werden. Die Wärmeabgabe nach dem Strahlungsprinzip wird als besonders angenehm empfunden. Die Energiebereitstellung erfolgt über neun kompakte Wärmepumpen mit einer Heizleistung von gesamt 300 kW, die den zehn Stiegen zugewiesen sind. Stiege 3 und 4 nutzen gemeinsam eine Wärmepumpe. Als Quelle bedienen sie sich des Erdreichs neben und unter den Gebäuden. Dazu wurden 30 Erdwärmesonden mit einer Länge von jeweils ca. 150 Metern abgeteuft. Weitere wichtige Elemente des Energiesystems sind die hocheffiziente, dichte Gebäudehülle, mit einem U-Wert der Außenwände von 0,16 W/m²K, die Bauteil-Speichermassen, denn Stahlbeton wird nicht nur in den Deckenbereichen sondern auch in den tragenden Innen- und Außenwänden verwendet, außenliegender Sonnenschutz und die Nutzung von überschüssigem Windstrom.

Die Warmwasserbereitung erfolgt mittels Wohnungsübergabestation aus einem zentralen Speicher je Haustechnikraum. Der Speicher wird bei Bedarf zweimal täglich in festen Zeitfenstern beladen, in denen die gesamte Leistung der Wärmepumpen ausschließlich der Warmwasserbereitung auf ca. 65 °C zur Verfügung stehen. Außerhalb dieser Zeiten wird ausschließlich geheizt oder gekühlt.

Durch eine frühzeitige integrierte Betrachtung bauphysikalischer und haustechnischer Aspekte, vor allem der Wechselwirkung von Energiebedarf, internen Lasten und Speicherwirksamkeit, konnten sowohl der Energiebedarf als auch die zu installierende Heizleistung erheblich reduziert werden. Das System bringt geringfügig höhere Mehrkosten bei der Investition mit sich als vergleichbare konventionelle Lösungen, bedingt vor allem durch das Sondenfeld. Demgegenüber stehen aber deutlich niedrigere laufende Kosten im Vergleich zu klassischen Lösungen, die direkt oder indirekt von fossiler Energiezulieferung abhängig sind. Aufgrund der Regeneration der Erdsonden in der warmen Jahreszeit und der konstanten Senkentemperatur der Räume ist ein sehr effizienter Betrieb der Wärmepumpen möglich. Im Heizbetrieb wird eine Jahresarbeitszahl von knapp 4 erreicht, im freien Kühlbetrieb ist die Arbeitszahl größer 15. Im Jahresschnitt können so über 80 Prozent des Energiebedarfes für Heizung, Kühlung und Warmwasser kostenlos aus dem Erdreich vor Ort gewonnen werden.

Die restlichen 20 Prozent, die elektrische Antriebsenergie der Wärmepumpe, werden vornehmlich aus Windstrom bereitgestellt, der sonst zum Zeitpunkt seiner Gestehung nicht abgenommen würde. Der Windpark kann so konstanter betrieben werden, die Windräder müssen nicht eingebremst oder aus dem Wind gedreht werden und MGG22 profitiert von günstigerem Strom.

Kühlen ganz ohne klimaschädliche Stromfresser

Bei der installierten Heizungsanlage werden die Heiz- bzw. Kühlkreise in den Wohnungen ganzjährig so geregelt, dass diese in einem Temperaturbereich von 23 °C plus/minus 1,5 K konditioniert werden. In der warmen Jahreszeit wird die überschüssige Raumwärme mittels freier Kühlung ins Erdreich eingebracht. Ein Erfolgsgeheimnis des Konzeptes besteht darin, die schweren Gebäudemassen ganzjährig auf einer relativ konstanten Temperatur zu halten.

Bei MGG22 werden rund 12 000 m² Zwischendecken und oberste Geschoßdecken thermisch aktiviert. Bei einer Deckenstärke von 25 cm entspricht das einem Stahlbeton-Volumen von 3000 m3. Das ergibt eine Masse von 7200 Tonnen thermisch bewirtschaftetem Speicher. Diese träge Speichermasse steht in einem thermodynamischen Gleichgewicht mit den Räumen und gibt ihre gespeicherte Wärme nur dann ab, wenn die Raumtemperatur sinkt. Aufgrund seiner Trägheit und seiner hohen Speicherkapazität ist das Gebäude weitestgehend unempfindlich gegenüber raschen Temperaturänderungen (z. B. Tag-Nacht-Temperaturgefälle). Damit ist es unerheblich, wann das Gebäude geheizt wird. Die Konditionierung kann sich immer an der Verfügbarkeit von Windstrom-Überschüssen orientieren. Messungen bei vergleichbaren kleineren Konzepten haben gezeigt, dass die Gebäude eine zulässige Raumtemperatur auch im Winter für knapp eine Woche ohne Heizen halten können, bevor sie übliche festgelegte untere Komfort-Grenztemperaturen unterschreiten. Demgegenüber stehen Windmessungen, die zeigen, dass sich zwischen nötigem Heizbetrieb und Windaufkommen Gleichzeitigkeiten von über 75 Prozent ergeben.

Die erste Heizsaison (Winter 2019/20) wurde bereits erfolgreich bewältigt. Aktuell bestätigen zahlreiche positive Rückmeldungen der Bewohnerinnen und Bewohner, dass die Wohnungen den sommerlichen Spitzentemperaturen trotzen.

Das Projekt wird auch im Rahmen eines umfassenden Energie-Monitorings evaluiert. Erste Ergebnisse werden gegen Ende des Jahres 2020 vorliegen. Mit repräsentativen Erkenntnissen ist nach dem zweiten Betriebsjahr zu rechnen, wenn Baurestfeuchten getrocknet und das Energiesystem richtig einjustiert ist.

Pionierprojekt MGG22 – zur Nachahmung empfohlen

Das Projekt MGG22 zeigt, dass klassische Energielösungen heute in vielerlei Hinsicht überdacht werden müssen. Das System bietet eine Antwort auf die wichtige Frage nach der Speicherbarkeit von volatil gewonnenem Strom. Ferner zeigt sich, dass es auch im sozialen Wohnbau und im urbanen Kontext heute bereits möglich ist, Gebäude sommertauglich und dabei ausschließlich erneuerbar zu versorgen. MGG22 setzt in puncto Versorgung mit erneuerbaren Energieträgern, Reduktion der Energiekosten und Lebensqualität neue Maßstäbe und will nachgeahmt werden. Die Technologien sind allesamt verfügbar, der Bedarf sie einzusetzen ist größer denn je. Nun fehlt nur mehr ein bisschen Mut, die Komfortzone zu verlassen und einen Schritt in Richtung Zukunft zu wagen.

AkteurInnen, Fördergeber und beteiligte Unternehmen

Neues Leben Gemeinnützige Bau- Wohn- und Sied- lungsgenossenschaft Reg. Gen.m.b.H., M2plus Immobi- lien GmbH, Architekt Dipl.-Ing. Alfred Charamza, Sophie und Peter Thalbauer Architektur, Thaler Thaler Architekten, rajek barosch landschaftsarchitektur, FIN - Future is Now Kuster Energielösungen GmbH, wohnbund:consult, WEB Windenergie AG, Stadt Wien - Energieplanung, Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie

Autor

Thomas Kreitmayer, MSc, ist in der Wiener Magistratsabteilung 20 – Energieplanung tätig.

Statement

"Gerade im Hinblick auf die verstärkte Nutzung von erneuerbaren Energien spielen Gebäude eine wichtige Schlüsselrolle. Sonne und Windkraft sind die bedeutendsten Energieträger der Zukunft, doch schwanken sie in ihrem Aufkommen. Daher sind Flexibilität und Speicherpotenziale wichtig. Dabei sorgt das Erdreich für den saisonalen Ausgleich, und die Betonteile des Gebäudes schaffen einen kurzfristigen Ausgleich."
Bernd Vogl, Abteilungsleiter der Energieplanung der Stadt Wien. Foto © Stadt Wien/C.Fürthner

Weiterführende Informationen

https://www.wien.gv.at/kontakte/ma20/pdf/hocheffiziente-gebaeude.pdf

https://www.mgg22.at/

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